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Entscheidung & Gestaltung

"Die schriftliche Master-Thesis ist eine Prüfungsarbeit, die zeigen soll, dass die Kandidat*in in der Lage ist, innerhalb der vorgegebenen Frist ein Problem aus ihrem Studienschwerpunkt unter Anleitung einer Professor*in zu bearbeiten und die Ergebnisse sachgerecht darzustellen." (§20 Master-Thesis (1) in: Neufassung der Prüfungsordnung für den Studiengang „Bildende Künste” Abschluss: Master of Fine Arts (M.F.A.), URL: https://www.hfbk-hamburg.de/documents/740/Pruefungsordnung_Master-Studiengang_Bildende_Kuenste__V6_ab_WiSe_21_22.pdf [Abrufdatum: 12.12.2021])


Das Problem: Das Treffen einer Entscheidung im besonderen Zusammenhang mit Gestaltung. Die Gestaltung einer Entscheidung.
Das Thema: Entscheidung & Gestaltung


Vorhaben: 3 Monate am Thema Entscheidung & Gestaltung forschen: SAMMELN -> SORTIEREN + SCHREIBEN -> SUCHEN

SAMMELN (siehe-> https://www.eaoe.de/e-g-1/) SORTIEREN + SCHREIBEN -> SUCHEN (siehe-> https://www.eaoe.de/e-g-2/)


Das Thema ist komplex und groß, wichtig ist es, erst einmal anzufangen, eine Struktur zu finden, die eine Suche nach Annäherungsperspektiven ermöglicht.                         
Die Arbeit ist eine Sammlung aus Anfängen (wie in unterschiedlichen Bereichen Entscheidung und Gestaltung eine Rolle spielen). Themen und Arbeit sind nicht zu Ende gedacht, die Gedanken, die zu (montierten) Texten der Thesis geworden sind, haben alle eine unterschiedliche Form der Bearbeitung bekommen. Geschichten, Artikel, Zusammenfassung, Essay, Beschreibung, Umschreibung, Gedankenexperiment, Idee, Flause…


Ergebnis: Nicht lineare Sammlung aus montierten Texten mit Quellenverweisen, Querverweisen, resultierenden Fragen und Ideen. Alles ist miteinander vernetzt, jeder Text steht durch Gedanken mit weiteren Texten in Verbindung, lässt sich querverweisen (siehe->). Neue Zusammenhänge können darüber hinaus gedacht werden. Die Leser:innen sind eingeladen, sich selbst in dieses Gedankenkarussell zu begeben. Eigene Fragen, Verweise und Inspirationen zu finden.
Vielleicht geht es um keine konkrete Antwort, weil dieses Thema zu individuell ist, zu persönlich, vielleicht geht es genau um den Prozess des Fragens, des Hinterfragens, des gemeinsamen Weiterentwickelns (des Individuums und dieser Arbeit).
Die Thesis soll ein Anfang sein, der Beginn vieler Fragen. Die Suche nach Entscheidungsparametern für die Gestaltung und Parametern für die Gestaltung von Entscheidungen ist nicht abgeschlossen, das SAMMELN -> SORTIEREN + SCHREIBEN -> SUCHEN geht weiter. Fragen sind offen, die Antworten muss wohl jede:r für sich selbst finden. Kommentare, Kritik und Anregungen sind ausdrücklich erwünscht -> info@eaoe.de


„Designer/innen finden Lösungsansätze, die zu Beginn des Gestaltungsprozesses nicht absehbar waren, indem sie bisher nicht in Beziehung stehende Aspekte vernünftig und zweckmäßig kombinieren.“
(Thilo Schwer, Momente der Entscheidung, Auf dem Weg zu einer Designgeschichte mit Prozessorientierung, in: Design Entscheidungen, Über Begründungen in Entwurfsprozessen, S. 17, Stuttgart, 2021)
„For us futures are not a destination or something to be strived for but a medium to aid imaginative thought to speculate with.“
(Anthony Dunne, Fiona Raby, Spekulative Everything, design, fiction, and social dreaming. S. 03, Cambridge/Massachusetts, 2013)
„Daher verstehe ich unter Design die Gestaltung der Beziehung zu und der Interaktion mit Artefakten. Um dies zu leisten, greift die Disziplin auf eine spezifische Wissenskultur zurück. Denn im Entwurf werden Ziele nicht gesucht, sondern im Rahmen von iterativen Prozessen selbst und immer wieder neu hervorgebracht. Neben dem Findungsprozess zählt die Fähigkeit, neuartige Verknüpfungen zu erkennen und Designentscheidungen auf Basis unterschiedlich gewichteter Parameter zu treffen, zu den Kernkompetenzen der Entwerfer/innen.“
(Thilo Schwer, a. a. O., S. 19)

 


Entscheidung & Gestaltung - das Thema ist formlos, passt überall hinein, fließt ein und kommt an anderer Stelle wieder heraus. Es hält zusammen, verbindet und klebt, es sondert sich ab oder wird abgesondert. Flexibel in Form und Konsistenz setzt es starre Grenzen und schafft fließende Übergänge. Es transformiert sich. Bleibt unförmig, schwer zu greifen und lässt sich modellieren. Ist Samen, Sud, Satz und schwammiger Schleim.

Entscheidung & Gestaltung bewegt in der Gegenwart die Suche nach Zukunftsfragen:

01

Artistic Research / Wissen

 

Es ist die Idee, dass Kunst Wissen produzieren kann und die Kunst in diesem Sinne auch als Forschung betrachtet werden kann. Es ist die Frage, ob künstlerische Forschung als wissenschaftliche Disziplin angesehen werden sollte und ob sie sich gegebenenfalls unterordnen muss oder ihre eigene Forschungsdialektik entwickeln bzw. behalten kann. Die künstlerische Forschung kann von ganz unterschiedlichen Perspektiven ausgehen und der Begriff Artistic Research bleibt weitgehend offen bzw. kann (noch) als alles definiert werden, was Künstler:innen in ihrer Praxis darunter verstehen oder in Beziehung setzen. Für die einen ist es der „Blick in andere Felder. […] Dann, wenn die Zeit es erfordert, wenn es das zu bearbeitende Thema braucht, dann, wenn mein künstlerisches Vokabular nicht ausreicht, um das zu formulieren, was ich formulieren möchte.“ (Thomas Locher, Künstlerische Forschung, Statement von Thomas Locher, in: 20 Jahre Texte zur Kunst, Artistic Research, Heft 82, S. 127, Berlin, 2011) Während es hier um das in eine angemessene Form bringen geht, bedeutet es für andere das Heranziehen von Methoden der Wissenschaft zur Erkenntnisgewinnung oder aber die „hybride Praxis“, das konkrete Kooperieren mit Wissenschaftler:innen jeglicher Disziplinen. „Praktiken, in denen Wissenschaft und Kunst methodisch, personell oder institutionell ineinandergreifen.“ (Friedrich von Borries, Projektbüro Friedrich von Borries, in: 20 Jahre Texte zur Kunst, Artistic Research, Heft 82, S. 177, Berlin, 2011) Es ist aber auch das, was passiert, wenn Künstler:innen ganz unwissenschaftlich und undiszipliniert leben, arbeiten und die Welt ganz nebenbei auf ihre individuelle Weise wahrnehmen, erforschen und ihre Werke gestalten und es nicht um die systematische Bemühung um Erkenntnisse geht. Wenn die Falsifizierbarkeit und Hypothesen nicht im Fokus stehen. Bei dem Begriff Artistic Research geht es um anderes Denken, ein gemeinsames Denken, ein Denken, das jenes zusammenbringt, was bisher nicht zusammengehörte. „Ein Denken des Dissenses, ein Denken, das Vielheit will anstatt Einheit.“ (Thomas Locher, a. a. O., S. 127) Ein Denken, das neues Wissen schafft jenseits von einer „für gesichert erachtetes Wissen hervorbringende(n) forschenden Tätigkeit in einem bestimmten Bereich“ also jenseits der Wissenschaft. („Wissenschaft“ auf Duden online, URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Wissenschaft [Abrufdatum: 03.01.2022])

 

„Was aus den diversen Anliegen und Verfahren einer genuin künstlerischen Wissensbildung unter dem Stichwort artistic research geworden ist, lässt sich als Umwandlung eines ungeregelten Feldes in eine akademische Disziplin nachzeichnen.“ (Kathrin Busch, Wissensbildung in den Künsten - eine philosophische Träumerei, in: 20 Jahre Texte zur Kunst, Artistic Research, Heft 82, S. 71, Berlin, 2011) Auf der einen Seite steht hier die Anerkennung dieser Art der Forschung als Form, um Wissen zu schaffen, auf der anderen Seite die Debatte über die Gefahr der Einschränkung durch Definition bzw. die Verwissenschaftlichung der Künste (die es bereits in den 1960er Jahren gab, als in den USA der Master of Fine Arts eingeführt wurde). „Im Hochschulbereich sind die Anzeichen einer ‚Disziplinierung‘ künstlerischer Forschung nicht mehr zu übersehen. Galten recherchebasierte und auf Erkenntnis zielende künstlerische Praktiken vor noch nicht allzu langer Zeit als deviante Formen der Kunstproduktion, die eine Verschiebung des Werkbegriffs, veränderte Produktions- und Rezeptionsformen oder ähnliche Grenzverletzungen mit dem Ziel einer kritischen Wissensproduktion vornahmen, werden heute die Aneignung von Theorien und die begriffliche Vermittlung der künstlerischen Praxis zu scheinbar unabkömmlichen Standards erklärt, auf die zumindest bei der akademischen Ausbildung an Kunsthochschulen zunehmend Gewicht gelegt wird und ohne die bei künstlerischen Projektförderungen kaum mehr Erfolge zu erwarten sind.“ (Kathrin Busch, a. a. O., S. 71)

Die Frage der Legitimität hat an Bedeutung gewonnen und erfordert, dass die künstlerischen Entscheidungen von dem:der Künstler:in in einen Kontext vermittelbarer Argumente gestellt werden. Als Künstler:in muss man Entscheidungen rechtfertigen, Worte finden für Entstandenes und Begründungen für die Gestaltung. Ob dies nun bewusst oder unbewusst passiert, freiwillig oder durch einen Druck von außen. „Recherche ist notwendige Voraussetzung einer künstlerischen Praxis. Allerdings mit fließenden Übergängen zwischen Denken und Wissen: denn Denken ist nicht Wissen.“ (Thomas Locher, a. a. O., S. 127)

„Von einem (Wissens-)Produkt ist angesichts künstlerischer Forschung kaum zu reden [].“ (Elke Bippus, Eine Ästhetisierung von künstlerischer Forschung, in: 20 Jahre Texte zur Kunst, Artistic Research, Heft 82, S. 103, Berlin, Juni 2011) Aus der künstlerischen (Forschungs-)Arbeit resultieren eine andere Art von Erkenntnissen und auch eine andere Art und Weise des Erkenntnisgewinns. Man hofft und vermutet, dass Ansätze, die die gewohnten Denkbahnen verlassen, einen relevanten Beitrag zum Umgang mit komplexen Problemen leisten können und dass wissenschaftliche Methoden in künstlerischer Praxis integriert oder dekonstruiert zum Werkzeug werden können, um Positionen entstehen zu lassen, die die Möglichkeit geben, Grenzen zu überschreiten und Perspektiven zu wechseln. (vgl. Friedrich von Borries, a. a. O., S. 177)

Geschätzt wird die Andersartigkeit der Kunst, ihre Kraft, Differenzen herzustellen und dass sie sich von anderen Funktionssystemen der Gesellschaft unterscheidet. (vgl. Peter Geimer, „Das große Recherche-Getue in der Kunst. Sollen Hochschulen Master of Arts`-Titel und Doktorhüte für Malerei verleihen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.4.2011, „Forschung und Lehre“, S. N5 zitiert nach: Elke Bippus, a. a. O., S. 99) Das führt auch zur Kritik an der künstlerischen Forschung bzw. ihrer Disziplinierungen in Kunsthochschulen. Befürchtet wird ein damit einhergehendes Angleichen an wissenschaftliche Standards und ein Einbüßen der künstlerischen Eigenständigkeit.

„Das aus philosophischer Perspektive sicherlich mit einer Idealisierung der Kunst als Freiraum verbundene Engagement für künstlerische Wissensbildung attestiert ihr die Neigung zur Häresie sowie das Bestreben, das bislang Ungedachte im Gedachten aufzustöbern, Gewissheiten zu verrücken und gesichertes Wissen zu verunsichern. Die partielle Regellosigkeit oder Tendenz zum Regelbruch wird durch die derzeitige Akademisierung selbstredend nicht befördert, da jede Disziplinierung mit einer Eingrenzung des Denk- und Machbaren einhergeht.“ (Kathrin Busch, a. a. O., S. 73)

Nimmt man ihr durch eine Einordnung bzw. Zuordnung die Möglichkeit, auf dasjenige zu verweisen, was aus der Ordnung des wissenschaftlichen Wissens ausgeschlossen ist und somit die Eigenständigkeit, die sie ausmacht?

Die Chance der eigenständigen, im Medium der Künste erbrachten Wissensbildung betrifft weniger ihre wissenschaftliche Validierung als vielmehr gerade das Grenzverletzende eines anderen als akademischen Wissens. Neue unkonventionelle Wege werden gedacht, entschieden und gestaltet. Und in der Zusammenarbeit von Kunst und Wissenschaft und dem jeweiligen Überschreiten ihrer Grenzen kann ein anderes Wissen entstehen, Innovationen und Lösungen von komplexen Problemstellungen. „Nicht die geregelte Verwendung theoretischer Kenntnisse oder die methodische Absicherung der Erkenntnisgewinnung macht das Reizvolle künstlerischer Wissensproduktion aus, sondern die mit ihr verknüpfte Vision einer anderen Wissenskultur.“ (Kathrin Busch, a. a. O., S. 73)

Radikaler formuliert: Um zu einem grundlegenden gesellschaftlichen Wandel zu gelangen, braucht es eine Forschung, die anderes Wissen und neues Denken „schafft, teilt und offen hält“ und unkontrolliert außerhalb allgemeiner sozialer Kontrolle produziert wird. „Aus diesen Gründen wird ein anderer Typ von Forschung wichtiger, den ich analog zu Schüttpelz/Fohrmann bohemistische Forschung nennen will. Damit meine ich eine außerinstitutionelle Forschung und die freie Assoziation der Forschenden. Hier handelt es sich um eine Produktion von Wissen im Austausch mit anderen, die ähnliche Probleme, aber unterschiedliche Qualitäten mitbringen. Diese Forschung entspringt existenziellen Notwendigkeiten. Sie erforscht die Probleme des Alltags, Probleme, welche die Forschenden wirklich betreffen. Das ist eine Forschung im Selbstauftrag, eine Forschung im Leben, am Leben und durch das Leben. Diese Forschung ist selbstorganisiert. [] Eine Öffnung der Forschung ist notwendiger denn je. Sie muss den Weg aus ihren sicheren Institutionen heraus auf die Straße finden. Bohemistische Forschung, das ist ein Kampf um Freiheit und die Offenheit des Forschens, um die Offenhaltung und Commonalisierung des Wissens, und das ist im Endeffekt ein Kampf zur Überwindung des Kapitalismus. Das mag komisch klingen, ist aber so.“ (Stephan Dillemuth, The hard way to enlightenment, Statement von Stephan Dillemuth in: 20 Jahre Texte zur Kunst, Artistic Research, Heft 82, S. 95-97, Berlin, 2011)

 

->Tipp: Gespräch von Prof. Jürgen Fohrmann, Dr. Erhard Schüttpelz, Stephan Dillemuth: http://societyofcontrol.com/delmont/d_fohr1.htm

 

Video von Stephan Dillemuth, „The Hard Way to Enlightenment“: http://societyofcontrol.com/outof/down/sd_hardway_h264_en.m4v

 

->Frage: Was ist eine gute Motivation?

 

03

Gestaltung / Design / Produkt

 

Klar ist, dass die Gestaltung von Produkten nicht mehr nur eine Entscheidung der Form ist und dass Produkte auch Prozesse sein können. Produkte haben ihre Dimension längst erweitert und sind von gegenständlichen Artefakten zu interaktiven Werkzeugen geworden. Produkte haben gestalterischen Impact auf die Gesellschaft. Klimaerwärmung, das globale Bevölkerungswachstum und somit die Nachhaltigkeit treiben uns um. Die ökologische Notwendigkeit fordert neue Leitmotive. Jetzt geht es um das Finden echter Lösungen, es geht um alles und am besten um das Nichts. Kein Müll, kein Ressourcenverbrauch, keine Emission von Treibhausgasen, keine Folgen - und wenn, dann nur gute.

Was ist gut? Bei der Bewertung der Qualität von Produkten soll wirklich die Gesamtheit ihrer charakteristischen Eigenschaften berücksichtigt werden. Von der Idee über die Produktion und die Wirkung - bis zum Ende, das wieder Anfang sein soll. Das Design von Produkten ist nur noch in Rohstoffkreisläufen denkbar. Und das alles am besten bei Netto Null. Das gut auch nicht mehr Quantität ist und Wachstum neu gedacht und vor allem umgesetzt werden muss, muss (eigentlich) auch nicht mehr diskutiert werden.

 

Aber

(Klassisches) Wachstum ist zwar obsolet, in unserer Welt dennoch omnipräsente Maxime. Der (monetäre) Wert (nach Abzug aller Vorleistungen) aller Güter, Waren und Dienstleistungen, die innerhalb der Landesgrenzen einer Volkswirtschaft hergestellt werden, das Bruttoinlandsprodukt (BIP), ist Kriterium für den Wohlstand eines Landes und die Leistungsfähigkeit seiner Volkswirtschaft (mit einer glücklichen Ausnahme: in Bhutan).

Sollten wir folgenlos wachsen? Wie wachsen wir folgenlos? Lasst uns statt dem BIP (Bruttoinlandsprodukt) die BIE (Bruttoinlandsemission) messen und statt der Steigerung, die Senkung als Wachstum definieren.

 

„Klimawandel und Umweltzerstörung sind existenzielle Bedrohungen für Europa und die Welt“, schreibt die Europäische Union. (Europäische Union, URL: https://ec.europa.eu/info/strategy/priorities-2019-2024/european-green-deal_de [Abrufdatum: 11.02.2022]) Alle haben wohl realisiert, dass wir uns in einer kritischen Situation befinden, und verstanden, dass die Privilegierten dieser Welt (im Sinne von gedeckten Grundbedürfnissen, Handlungsoptionen und Entscheidungsmacht über das eigene Handeln und ggf. darüber hinaus) nun die Verantwortung tragen, Entscheidungen zu treffen, die die Zukunft besser gestalten. Uns erhalten, retten! Schließlich sind sie (wir) auch die Hauptverantwortlichen bei der Verursachung. Pro Kopf emittiert ein:e Bewohner:in eines Industriestaates ein Vielfaches an Treibhausgasen gegenüber einem:einer Bewohner:in von Entwicklungsländern, die aber Hauptopfer des Klimawandels sind und sein werden. 1/5 der Weltbevölkerung verursacht die globalen Umweltschäden, während der Rest unverschuldet die Folgen zu tragen hat. (vgl. Felix Ekardt, Das Prinzip Nachhaltigkeit, Generationengerechtigkeit und globale Gerechtigkeit,  München, 2005)

Die Kluft zwischen Verursacher:innen- und Betroffenenländern bzw. der Aspekt der globalen räumlichen wie zeitlichen Gerechtigkeit ist im Zusammenhang mit der Nachhaltigkeit also maßgebend. Der Green Deal könnte hier der Anfang eines Versuchs sein, die historische Verursachung des Klimawandels durch den Westen auszugleichen. Die Europäische Union will „erster klimaneutraler Kontinent werden“ und „mit dem europäischen Grünen Deal den Übergang zu einer modernen, ressourceneffizienten und wettbewerbsfähigen Wirtschaft schaffen, die bis 2050 keine Netto-Treibhausgase mehr ausstößt, ihr Wachstum von der Ressourcennutzung abkoppelt, niemanden, weder Mensch noch Region, im Stich lässt.“ (Europäische Union, URL: https://ec.europa.eu/info/strategy/priorities-2019-2024/european-green-deal_de [Abrufdatum: 11.02.2022]) Sie nimmt mit dem European Green Deal für sich in Anspruch, eine internationale Führungsrolle und Vorbildfunktion für andere Staaten und Regionen zu übernehmen. Mit einem komplexen Maßnahmenpaket versucht die EU, komplexe Entscheidungen zu steuern, die die Welt „grüner“ gestalten sollen.

 

Neben der Klimakrise existieren weitere: „[…] Steigende soziale Ungleichheit. Corona-Pandemie. Exklusion und Entfremdung. Die Krisen der Gegenwart machen deutlich, dass das derzeitige Wirtschafts- und Kulturmodell mit seiner Orientierung am ,immer mehr' nicht zukunftsfähig ist.“ (Europa-Universität Flensburg, URL: https://www.uni-flensburg.de/transformationsstudien [Abrufdatum: 09.02.2022]) Transformationen in allen Bereichen sind jetzt notwendig. Wir befinden uns in einer komplexen Krise. Die Krise als schwierige Lage, als eine Zeit, die den Höhe- und Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung darstellt, hat ihre Wortherkunft im (Alt-)Griechischen krísis = Entscheidung, entscheidende Wendung. („Krise“ in Duden online, URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Krise [Abrufdatum: 07.02.2022]) Es geht also um die Krise als Ausgangspunkt für neue Entscheidungen und (Um-)Gestaltungen und den damit wirkenden Veränderungsdruck auf das Design, seine Potenziale, Einflussmöglichkeiten und die Chance, jetzt „durch veränderte Zukunftsbilder Alternativen aufzuzeigen und diskursfähig zu machen.“ (Thilo Schwer, Momente der Entscheidung - Auf dem Weg zu einer Designgeschichte mit Prozessorientierung, in Melanie Kurz, Thilo Schwer, Design Entscheidungen - Über Begründungen in Entwurfsprozessen, S. 06, Stuttgart, 2021) Jetzt gilt: „Ohne Transformation kein Design!“ (Ruedi Baur, Der Wert der Veränderung, in: Andreas Koop, Schön und gut - Was werteorientierte Gestaltung verändern kann, S. 06, Basel, 2019)

 

Aber

Was ist Design, Gestaltung, ein Produkt heute und jetzt?

Was ist die Rolle der Designer:innen?

 

 

Da die Welt in Form von Verbindungen und Interaktionen zu betrachten ist und alles miteinander vernetzt ist und in Wechselwirkung steht, realisiert sich Design nicht nur in Objekten, sondern in größeren Kontexten und Systemen. Bei der Transformation als wirkliche Veränderungen durch Design geht es nicht um die Veränderung eines Sachverhaltes, bei dem die Kausalitäten von Grund und Ursache klar nachzuvollziehen sind und für dessen Lösung es bereits Wissen aus Erfahrungen gibt. Es geht nach Horst Rittel (Mathematiker, Physiker und Designtheoretiker) um die Lösung von Problemen, die situationsspezifisches Wissen benötigen, die nicht losgelöst von ihrem Kontext zu betrachten sind und die ihre Form im Laufe des Problemlösungsprozesses ändern. Er macht einen Unterschied zwischen „zahmen Problemen“ und „bösartigen Problemen“. Heute muss das Design Probleme lösen, die „bösartig“ sind, die ihren Charakter verändern, die in Beziehungen mit ihrem Umfeld stehen, die zwingend mitberücksichtigt werden müssen.

Diese Probleme lassen sich nur verstehen, wenn man ihre Abhängigkeit von äußeren Einflüssen versteht und sie bereits mit zum Teil des Lösungsprozesses werden lässt. (vgl. Horst Rittel, On the Planing Crisis, 1972, in:  Jean-Paul Protzen, David J. Harris, The Universe of Design, Horst Rittel’s theories of design and planning, S. 151-165, London, 2010) Das bedeutet für die Rolle des:der Designers:Designerin, dass er:sie die unterschiedlichen Positionen der Akteure:Akteurinnen, die durch die vernetzte Struktur und ganzheitliche Betrachtung am Problem beteiligt sind, erkennen, verstehen und zueinander in Beziehung setzen muss. (vgl. Horst Rittel: Seminar 7: Design, 1964, in:  Jean-Paul Protzen, David J. Harris, The Universe of Design, Horst Rittel’s theories of design and planning, S. 95-105, London, 2010)

Im Designprozess geht es somit um die Auseinandersetzung und Bewertung unterschiedlicher Positionen und deren sinnvolle Verbindungen, um auf diese Weise neue Informationen zu generieren und passgenaue Lösungen zu finden. Diese Lösungen können nur den momentanen Zustand der Situation verbessern (da das Problem nach Rittel ein Eigenleben hat und sich wandelt), sie müssen in korrektiven Runden und mit neuen Erkenntnissen immer wieder korrigiert werden, die Aufgabe der Designer:innen ist die kontinuierliche Suche ohne definierten Lösungsraum. (vgl. Horst Rittel, The Reasoning of Designers, 1987, in:  Jean-Paul Protzen, David J. Harris, The Universe of Design, Horst Rittel’s theories of design and planning, S. 187-195, London, 2010 und Horst Rittel: Seminar 1: Modes of Innovation, 1964, in: Jean-Paul Protzen, David J. Harris, The Universe of Design, Horst Rittel’s theories of design and planning, S. 47-52, S. 49, London, 2010)

 

Die Entscheidungen, die im Zusammenhang mit dem Design bzw. der Gestaltung von Produkten in der Zukunft gebraucht werden, sind komplex. Sie benötigen Informationen aus allen Bereichen und müssen gleichzeitig ihre Wirkung auf alle Bereiche berücksichtigen. Die kollaborative Arbeitsweise wird die neue Qualität der Gestaltungsarbeit, „[…] der an ein Individuum gekoppelte Gestaltungsprozess wird einem vernetzten Arbeiten weichen, das von einer gemeinsamen Urheberschaft und der situativen Anpassung von Prozessen, Einflussgrößen und Rohstoffen geprägt ist. Gestaltung kann dann neue Leitbilder vermitteln und dabei helfen, entstandene Lösungen positiv zu besetzen. Nur so lässt sich eine umfassende Akzeptanz und damit ein nachhaltiger Transformationsprozess initiieren und in Gang halten.“ (Thilo Schwer, a. a. O., S. 13)

Die Probleme der Gegenwart fordern eine interdisziplinäre Auseinandersetzung, um Entscheidungen treffen zu können, die nachhaltige Lösungen gestalten. Die Personen aller Bereiche bringen relevantes Wissen und ihre eigene Art der Gestaltung von Lösungen mit. Sie sind geformt von Regeln, Gesetzen, Erfahrungen aus ihrem Umfeld und treffen Entscheidungen nach unterschiedlichen Prinzipien. Um neue Ideen zu generieren und Lösungen zu gestalten, gilt es, diese Interdisziplinarität zu nutzen. Vielleicht beschreibt die neue Rolle des:der Designers:Designerin, die eines:einer Produktmanagers:Produktmanagerin. Der:die Designer:in als Schnittstelle, die zwischen den Disziplinen vermittelt und auch zwischen Produzent:in und Konsument:in, die Informationen sammelt, sortiert, neue Verknüpfungen herstellt, Möglichkeiten evaluiert und den Prozess der Lösungsfindung gestaltet und Entscheidungen trifft.

Richard Buckminster Fuller stellte bereits 1963 fest, dass kein:e Spezialist:in, sondern eher ein:e Experte:Expertin für das Allgemeine nötig ist, ein:e Beobachter:in der umgebenden Systeme. Gefragt sei eine Synthese aus Künstler:in, Erfinder:in, Mechaniker:in und Ökonom:in, um alle Informationen verarbeiten und sie in „tools for human happiness“ übersetzen zu können. (vgl. Fred Turner, Technocrat for the Counterculture, in: Hsiao-yun Chu, Roberto G. Trujillo, New Views on R. Buckminster Fuller, S. 146-159, Stanford, 2009)

Die Person bzw. die Persönlichkeit des:der Designers:Designerin bleibt dabei prägend für die Gestaltung von Produkten, denn: „Was der Designer weiß, glaubt, fürchtet, wünscht, geht in seine Denkweise bei jedem Schritt des Prozesses ein und beeinflusst seinen Gebrauch der epistemischen Freiheit. Er wird sich – natürlich – den Standpunkten verschreiben, die zu seinem Glauben, seinen Überzeugungen, Vorlieben und Wertvorstellungen passen, wenn er nicht von jemand anderem – oder aus eigener Einsicht – überredet oder überzeugt wird.

Design ist mit Macht verbunden. Designer planen Ressourcen zu binden und beeinflussen dadurch das Leben anderer. Designer sind aktiv in der Anwendung von Macht. Daher ist Design bewusst oder unbewusst politisch.“ (Horst Rittel, Die Denkweise von Designern, Studiohefte Problemorientiertes Design 1, Jesko Fezer (Hrsg.), Oliver Gemballa (Hrsg.), Matthias Görlich (Hrsg.), Hamburg, 2012) Mit der „neuen“ Rolle der Gestalter:innen in einer partizipatorischen und dezentralisierten Designpraxis geht also auch die „neue“ Rolle vom Design einher. 1970 schrieb Viktor Papanek in seinem Buch „Design for the Real World“: „Design ist zum mächtigsten Werkzeug geworden, mit dem der Mensch seine Werkzeuge und seine Umgebung (und im Anschluss daran Gesellschaft und sich selbst) formt. Dies verlangt eine hohe soziale und moralische Verantwortung vom Designer.“ (Victor Papanek, Design for the Real World, Stockholm, 1970, siehe auch: Victor Papanek, Das Papanek-Konzept, Design für eine Umwelt des Überlebens, S. 35f., München, 1972) Nach Papanek müssen Designer:innen Verantwortung übernehmen für das, was sie gestalten, weil es nicht nur um das einzelne Objekt bzw. Produkt geht, sondern weil dieses innerhalb eines Systems steht. Beim Entwerfen und Produzieren in einer Wachstumsökonomie (in einem kapitalistischen System) werden Kaufreize geschaffen und damit Ressourcen verbraucht. Der Gestaltungsauftrag ist nicht vornehmlich schön und funktional, sondern beinhaltet vor allem die Sozial- und Umweltverantwortung. Der verantwortungsbewusste Designbegriff und Papaneks Nachhaltigkeitsideen haben in den 1970er Jahren bereits eine Rolle gespielt, sind im Neoliberalismus der 1980er und 1990er Jahre wieder weitgehend vergessen worden und erfahren heute ihre Aktualisierung. (vgl.: SWR2 Journal am Mittag, 28.4.2021, SWR2, URL: https://www.swr.de/swr2/film-und-serie/arte-doku-design-ist-niemals-unschuldig-modernes-design-braucht-kritisches-denken-100.html [Abrufdatum: 25.01.2022])

 

Nach Bazon Brock wissen wir ebenfalls seit den 70er Jahren, dass Lucius Burckhardt „der bedeutendste deutschsprachige Designemphatiker [war]. Er hat die Summe allen aufgeklärten und tatsächlich fortschrittlichen Denkens des Designs in der westlichen Welt jedermann vermittelt […]: Die Einheit bildet das Beziehungsgefüge zwischen Menschen. Das Gefüge besteht aus Gesetzen, Verordnungen, Strukturen, Institutionen, Traditionen, Mentalitäten, Klima, Sprachen und Religionen als Zentren aller Kulturen. Die Einflussnahme Einzelner wie einzelner Gruppen ist von deren Machtmitteln abhängig. Gestaltung ist also Einflussnahme auf das Verhalten von Menschen in den unterschiedlichsten Lebensumgebungen. […] Design ist Soziodesign [.] Vorsitzende von Rechts- oder Finanzausschüssen wie von Planungskommissionen sind jedenfalls die wahren Gestalter. Im Vergleich zu deren Gestaltungsmacht ist das traditionelle Designen als Objektbehübschung weitestgehend unerheblich.“ (Bazon Brock, Vorwort, in: Lucius Burckhardt, Design heisst Entwurf, Studienhefte Problemorientiertes Design, Heft 3, S. 05-06, Jesko Fezer (Hrsg.), Oliver Gemballa (Hrsg.), Matthias Görlich (Hrsg.), Hamburg, 2013) (siehe-> 14)

 

Das „neue“ „[…] Design ist das planvolle – also absichtliche, vorsätzliche und zielorientierte – Gestalten von physischen und virtuellen Gegenständen, Innen- und Außenräumen, Informationen und sozialen Beziehungen. Dieser erweiterte Designbegriff umfasst also alles, was in disziplinär engeren Kontexten Produkt-, Industrie-, Grafik- und Kommunikationsdesign etc. genannt wird, darüber hinaus Architektur, Städtebau und Stadtplanung sowie Landschaftsarchitektur, aber auch Bereiche der bildenden Kunst und des sozialen und künstlerischen Aktivismus.“ (Friedrich von Borries, Weltentwerfen - Eine politische Designtheorie, S. 09, Berlin, 2016) „Wir alle sind Designobjekte – und wir alle sind, ob wir es wollen oder nicht, zu den Designerinnen und Designern unserer Selbst geworden.“ (Friedrich von Borries, Design formt Gesellschaft - Essay, 22.03.2019, S. 05, URL: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/287808/design-formt-gesellschaft-essay/ [Abrufdatum: 12.01.2022]) Sei es direkt (im Sinne der Selbstoptimierung) oder indirekt über unsere Entscheidungsmacht und ihre Auswirkungen auf die Gestaltung unseres Lebens, der Gesellschaft, der Welt.

 

Design „kann heilend, stärkend, wiederaufbauend in den Weltuntergang eingreifen. Gestalter sollen komplexe Zusammenhänge aufschlüsseln, anschaulich, fühlbar, hörbar, sichtbar und greifbar machen und im Schulterschluss mit Biologen, Technologen, Soziologen, Umweltschützern oder Investoren Werkzeuge für Veränderung und alternative Wege aufzeigen: Der Designer als Umdenker und Aufrüttler, als Stratege und Problemlöser, als sozialer Innovator und visionärer Kleinaktivist.“ (Die Architektin und MoMA-Kuratorin /Museumskuratorin Paola Antonelli in Mirja Rosenau, Die letzten Tage der Menschheit, Art Das Kunstmagazin, S. 34, Hamburg, 2019).

Lucius Burckhardt fordert in seinem Essay „Design ist unsichtbar“ von 1980 im Design ein prozessorientiertes Gestalten von sozialen Beziehungen statt von Dingen, es geht ihm um das Gesamtsystem, bestehend aus Objekten und zwischenmenschlichen Beziehungen. Designer:innen sollen Räume für menschliche Entfaltung öffnen und nicht bloß für die Optimierungen von Problemstellungen sorgen können und dürfen. Er stellt fest, „[…] daß Dinge mit so hohem Symbolwert und so geringem Anteil von Erfindung wie das Eßbesteck gar nicht Gegenstand des Design sind. Diejenigen Dinge aber, die noch zu erfinden sind, sind wohl, mindestens in ihren technischen Teilen, für den Designer zu schwierig. So muß sich das Design öffnen zu einem Soziodesign: einem Nachdenken über Problemlösungen, die dadurch entstehen, daß sowohl Rollen wie Objekte aufeinander abgestimmten Veränderungen zugeführt werden.“ (Lucius Burckhardt, Wer plant die Planung? Architektur, Politik und Mensch, Jesko Fezer (Hrsg.), Martin Schmitz (Hrsg.), S. 187-199 (gekürzte Fassung), Berlin, 2004) Selbst wenn es um Produkte für den alltäglichen Bedarf geht und eben doch um die neue Version des Essbestecks o. Ä., können Produktdesigner:innen neben dem eigentlichen Ergebnis der Gestaltung, dem Artefakt, durch die Transformation im Entstehungsprozess (siehe-> 13) und die in seinem Verlauf getroffenen Entscheidungen, die Auswirkung auf den weiteren Verlauf des Artefaktes über den Verkauf hinaus haben, „Sinnbilder erzeugen, die Funktionalitäten, Haltungen und Werte vermitteln […]“. Das „Andersmöglichsein“ der Artefakte wird für gesellschaftliche Aushandlungsprozesse verfügbar gemacht. Es macht „[…] Zukünftiges, noch nicht Existierendes, erfahrbar und bewertbar, sodass ein Diskurs über dessen Sinn, Zweck und Auswirkung geführt werden kann.“ (Thilo Schwer, a. a. O. S. 19) Denn „das Ästhetische hat […] entwerfendes Potenzial, wenn es die utopische Möglichkeit in der sinnlichen Erfahrung zur – temporär – möglichen Wirklichkeit werden lässt. Durch dieses Vermögen kann Design als Instrument für gesellschaftlichen Wandel genutzt werden.“ Denn „Design leistet dazu einen Beitrag, indem es mögliche Alternativen zur bestehenden Gesellschaft beschreibt und sinnlich erfahrbar macht – als Modell, als Bild, als Imagination. […] Das durch Design vermittelte Bild eines besseren Anderen wird zur Folie, vor der über ein anderes Ideal des Eigenen nachgedacht werden kann. […] Als materialistisches Instrument kann Design einen konkreten Beitrag zur Transformation von Gesellschaft leisten, indem es Räume, Gegenstände, Kontexte zur Verfügung stellt, in denen bis dahin nicht vorstellbare Formen von Beziehungen gelebt werden können.“ (Friedrich von Borries, Weltentwerfen - Eine politische Designtheorie, S. 81-83, Berlin, 2016)

 

Designer:innen werden zu Gestaltern:Gestalterinnen von materialisierten Sinnbildern und Design wird zum Medium: Produkte als Gegenstände des täglichen Gebrauchs integrieren die Vision (z. B. von einer neuen Art der Herstellung, des Vertriebs, der Benutzung) und Konsumenten:Konsumentinnen bekommen ein Gefühl für das für die (nahe) Zukunft entworfene Bild, für die Symbole der Vision. Durch den Gebrauch der Produkte bzw. den Umgang mit ihnen, werden diese als wiederkehrende Erinnerung in die Routinen des täglichen Lebens integriert. Gewohnheiten können dadurch in Frage gestellt und damit ein Impuls für das Üben neuer Verhaltensmuster gegeben werden. „Die Idee ist es, Bewusstsein zu wecken und indirekt und spielerisch den Lebensstil der Nutzer:innen nachhaltig für eine bessere Zukunft zu gestalten.“ (vgl. UP02, URL: https://www.eaoe.de/und/ [Abrufdatum: 24.02.2022]) Design hat jetzt wieder und eigentlich auch immer noch die gleiche Mission: Wertvorstellungen normativ beeinflussen, eine Weltanschauung üben lassen, neue Prinzipien und Grundsätze etablieren und erlebbar machen, Glauben und Handeln der Menschen beeinflussen. Designer:innen haben die Gelegenheit, visionäre Symbole zu gestalten.

 

Ein Beispiel für ein solches Symbol im Design und Entwurf eines Bildes der Zukunft sind die Entwürfe von Enzo Mari zum Selberbauen von 1974, die zeigen sollten, dass gutes Design für die breite Gesellschaft zugänglich sein kann. In „Proposta per un’autoprogettazione“ (Neuauflage: Enzo Mari, Autoprogettazione?, Mantua, 2002) entwickelte er eine Serie von 19 Möbeln zum Selberbauen und thematisierte damit zum einen „[…] die Möglichkeiten des Gestaltens als erzieherische – wenn man so will weltverbessernde – Komponente für unsere Umgebung […]“ und zum anderen „[…] hinterfragte und kritisierte er mit diesem Vorschlag gängige Konsum-, Produktions- und Distributionsmechanismen der Designwelt.“ (Andreas Glücker, "la forma è tutto" - zum Tode des Designers Enzo Mari, URL: https://www.hfbk-hamburg.de/de/aktuelles/la-forma-e-tutto-ein-Nachruf-auf-Enzo-Mari/ [Abrufdatum: 22.01.2022])

Von 2021 ist die Idee von Stefan Diez gemeinsam mit der Firma Magis, ein flexibles Sofasystem („Costume“) aus recycelten und recycelbaren Materialien zu entwickeln und dessen Rückgabe durch ein Pfandsystem gleich mitzugestalten. In Zusammenarbeit mit einem Architekturbüro und einem Stuhlfabrikanten hat der Designer außerdem das Raumsystem „D2“ entwickelt, dass der Idee Enzo Maris sehr ähnlich ist, nur das hier noch weitere Akteure:Akteurinnen zwischen Design und Endverbraucher involviert sind. Hier fügen für das System entwickelte Verbinder Polycarbonat- und Aluminium-Leichtbauplatten zu einem Raumregal zusammen. Zum Konzept gehört, dass nicht ein Unternehmen das Regal produziert, sondern ein:e Architekt:in die Raumstruktur plant und ein lokaler Handwerksbetrieb das Material beschafft und die Regale baut. „Damit umgehen wir den klassischen dreistufigen Vertriebsweg und die damit verbundenen Preisaufschläge. So wird es für den Endverbraucher leistbar, das qualitativ hochwertige und daher nicht ganz billige Material zu verwenden. Ein Material, das man nicht einfach wegwirft, sondern weiterverkauft, wenn man den Raum verändern möchte. Letztendlich vertreibt Wagner Living also bei diesem System nur die Verbinder und Verblendungen. Und das verändert die Rolle des Herstellers grundlegend, schließlich haben Hersteller auch am Material verdient. Fällt das nun weg, dann wird der Service ein Produkt sein, das er vertreibt.“ (Stefan Diez, Das Ende vom Design, wie wir es kennen, Stefan Diez im Interview mit Baumeister, Das Architekturmagazin, S. 24, 2021 URL: https://www.diezoffice.com/wp-content/uploads/2021/09/BM_0821_S20-24.pdf [Abrufdatum 19.02.2022])

Nicht nur den Konsumenten:Konsumentinnen wird so ein „Sinnbild“ für das „Andersmöglichsein“ vorgestellt und beigebracht, sondern auch die Konstellation zwischen Kunde:Kundin, Hersteller:in und Vertrieb verändert sich und die Arbeit der Designer:innen ebenfalls. „Das Design wird in Zukunft nicht mehr in einem Produkt stecken, sondern in der Wertschöpfungskette liegen, die wir als Designer mitgestalten. […] Zukünftig gilt für Designer, Prinzipien zu erfinden, bei denen der Gewinn vom Ressourcenverbrauch entkoppelt ist und die Hand in Hand gehen mit Handwerk, Industrie und Reparatur, mit Servicedesign, Umnutzung und Beratung. Die große Herausforderung sehe ich daher nicht im Produkt selbst, sondern im Produktumfeld: Im Grunde muss die Infrastruktur für die Produkte neu erfunden werden.“ (Stefan Diez, a. a. O.)

 

ABER

Der Druck steigt, alle suchen nach dem richtigen Ansatz und der Sicherheit nach Anerkennung und bedürfen Grundprinzipien für die Absolution. Zeitgeist und Zeitdruck lassen sich nicht mehr ignorieren, jede:r der:die etwas auf sich hält kauft bewusst, gestaltet sein:ihr Leben nachhaltig und erwartet dies auch vom Rest der Welt (zumindest von den anderen in seinem bzw. ihrem sozialen Umfeld). Design muss die Welt verbessern, retten und darf kein Triebmittel für Massenkonsum sein. Alle setzen ein Zeichen, wecken das Bewusstsein für „nachhaltige Mode“, für „recycelbare Materialien“, Unternehmen launchen Produktlinien, bei denen sie vermeintlich alles richtig machen, zeigen, wie es gehen kann und uns die Zukunft weisen. Projekte nach der Maßgabe ökologischer Vernunft sind en vogue. Sie sind ein Symbol für die richtige Richtung, aber Teil des Systems und bleiben das Problem. Noch steht die Unterstellung von Greenwashing dem Argument der breiten Aufmerksamkeit für den Umweltschutz und der Symbolwert für die Transformation gegenüber. Bilden wir uns aber nur nicht ein, dass die Mehrzahl der Akteure:Akteurinnen dieser Zeit die Welt retten wollen - sie wollen sich retten. Besser ist eben nicht gut und erst recht nicht noch mehr als gut. Wir (Designer:innen, Politiker:innen, Konsumenten:Konsumentinnen, Entscheider:innen & Gestalter:innen, Menschen) müssen aufpassen, dass wir nicht an einem Punkt bleiben, an dem die „Verbesserung“ nur als Marketinginstrument genutzt wird. Wir müssen dafür (aktiv) sorgen, dass sich unsere Prinzipien in allen (auch in den nicht sichtbaren) Bereichen durchsetzen und als Standard gesetzt werden. Es darf eben nicht bei Designobjekten und vereinzelten Produktlinien bleiben, diese sind als Sinnbild in Ordnung, stehen auch symbolisch für die Vision und helfen vielleicht auch, diese zu missionieren, aber gefährlicher und viel notwendiger für die Transformation sind doch z. B. im Bereich der materiellen Produkte solche, die in Masse konsumiert werden (zum Teil müssen) und auch ihr Verbrauch.

Es ist gut, dass der „Verband Deutscher Industrie Designer e.V.“ in seinem Berufscodex (seit 2012), den Punkt „Wirkungen gestalten“ hat. Es scheint, als hätte Lucius hier Einzug gehalten: „Die Gestaltung der körperhaften Form bildet den Kompetenzkern der Industriedesignerinnen und Industriedesigner. Sie begreifen das Objekt als ein interagierendes Element innerhalb von technischen, sozialen, kulturellen, ökologischen und ökonomischen Prozessen. Industriedesign ist bewusste Gestaltung von Wirkungen, die mit dem Objekt erzielt werden.“ (Verband Deutschen Industrie Designer, URL: https://www.vdid.de/assets/downloads/codex/VDID_Codex_deutsch.pdf [Abrufdatum: 07.02.2022], S. 11) Das Bewusstmachen dieser Wirkung ist wichtig, schließlich geht es jetzt darum „[…] das Überleben der Menschheit zu sichern.“ (Friedrich von Borries, Design formt Gesellschaft - Essay, a. a. O., S. 04)

Wenn es jetzt dringender als je zuvor beim Design um mehr als die „formgerechte und funktionale Gestaltgebung und daraus sich ergebende Form eines Gebrauchsgegenstandes“ (Wortherkunft: englisch design < älter französisch desseing, zu: desseigner = zeichnen, entwerfen, „Design“ in Duden online. URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Design [Abrufdatum: 09.02.2022]) geht, dann geht es wohl jetzt tatsächlich um das „Weltentwerfen“. (vgl. Friedrich von Borries, Weltentwerfen - Eine politische Designtheorie, Berlin, 2016) Weltentwerfen: „Im Grunde heißt das nichts anderes als dass wir ja heute im Anthropozän leben und alles, was wir tun, einen wesentlichen Einfluss auf die Form und Gestalt der Erde hat und, anders herum, die Erde ganz wesentlich von uns geprägt ist. Das heißt, wenn wir etwas gestalten, verändern wir damit auch die Welt. Das muss man im Kopf haben, wenn man gestaltet. Das bringt für Designer, für Architekten eine bestimmte hohe Verantwortung mit sich.“ (Friedrich von Borries im Gespräch mit Thorsten Jantschek, Deutschlandfunk Kultur, 14.01.2017, URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/designtheoretiker-friedrich-von-borries-entwerfen-ist-100.html [Abrufdatum: 22.01.2022]) Das Potenzial von Gestaltung, gesellschaftlich relevant zu sein, führt zu einer besonders starken Gewichtung der Entscheidungen, die hier getroffen werden.

Auch der Verband Deutschen Industrie Designer hält in seinem Codex fest, dass Designer:innen in einer überpersönlichen Verantwortung stehen und gemäß einem gesellschaftlichen Auftrag handeln. (vgl. Verband Deutschen Industrie Designer, a. a. O., S. 07) Sie gestalten mit ihren Entscheidungen unsere Umwelt, Design ist (auch) eine Disziplin, um gesellschaftliche Probleme zu lösen. (vgl. Studiengang Transformationsstudien an der Europa-Universität Flensburg, a. a. O.) Damit ist bzw. wird Design politisch, „auf die Durchsetzung bestimmter Ziele besonders im staatlichen Bereich und auf die Gestaltung des öffentlichen Lebens gerichtetes Handeln von Regierungen, Parlamenten, Parteien, Organisationen o. Ä..“ („Politik“ in Duden online, URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Politik [Abrufdatum: 06.02.2022]) Und politisch auch im Sinne von „auf ein Ziel gerichtet, klug und berechnend.“ („politisch“ in Duden online, URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/politisch [Abrufdatum: 06.02.2022])

 

Neben der Mitverantwortung bei der Gestaltung einer besseren Welt und dem Ankurbeln des Transformationsprozesses sind Designer:innen auch für die Akzeptanz dieser bzw. dieses mitverantwortlich. Denn „Diese aus ökologischer Notwendigkeit geborenen neuen Leitwerte dürfen nicht als Drangsal auftreten, weil sie ansonsten keinen dauerhaften Rückhalt in der (Welt-)Bevölkerung finden. Sie müssen vielmehr positiv besetzt werden. In diesem Sinn braucht es zu den neuen Leitwerten auch neue Leitbilder – begehrenswerte Produkte, die auch mit ihrem Design beispielhaft diese Werte verkörpern. Industriedesigner müssen den neuen Leitbildern mit faszinierenden Produktstrategien global zum Durchbruch verhelfen. Nur eine innovative Produktkultur ermöglicht eine dauerhafte Einbeziehung aller Menschen in eine prosperierende Weltwirtschaft.“ (Verband Deutschen Industrie Designer, a. a. O., S. 39)

 

„Designer der Gegenwart müssen die Ausrüstungsgegenstände für einen Lebensstil entwickeln, der eben nicht die eigenen Lebensgrundlagen zerstört, sondern sie zumindest erhält – und gleichzeitig diesen neuen Lebensstil begehrlich, attraktiv, lebenswert erscheinen lässt.“ (Friedrich von Borries, Design formt Gesellschaft - Essay, a. a. O., S. 04)

Es gilt, „das bisherige Wachstumsparadigma zu hinterfragen und neue Bezugssysteme für das Design zu entwickeln. Das Ziel einer Postwachstumsgesellschaft verschiebt auch hier den Fokus vom individuellen Bedürfnis zum kollektiven Wohlergehen. Für die Gestaltung ergeben sich daraus neue Komplexitätsfelder und Parameter im Rahmen von Entwurfshandlungen. Lösungen müssen den großen Bezugsrahmen des Gesamtsystems ebenso im Blick haben wie lokale Besonderheiten und regionale Vernetzungen.“ (Thilo Schwer, a. a. O., S. 13)

 

„Der Mensch lebt unter Bedingungen, die die Menschheit selbst geschaffen hat. […] Wir entscheiden nicht frei, sondern bewegen uns in einem Feld von Normen, Werten, Prägungen. Die von uns erzeugten Dinge (und, im Sinne eines erweiterten Designbegriffs, auch die Räume, Beziehungen und Ordnungen) sind diesen Bedingungen unterworfen. Diese Bedingungen sind in der Welt, in die wir geworfen sind, gegeben – und werden durch das Design, das wir projektierend der Welt entgegenwerfen, verändert.“ (Friedrich von Borries, Weltentwerfen - Eine politische Designtheorie, a. a. O., S. 16) „Der Mensch ist gezwungen, die Bedingungen, unter denen er lebt, zu gestalten.“ (Friedrich von Borries, Vorwort, Weltentwerfen - Eine politische Designtheorie, a. a. O., S. 02) Design ist politisch und alle tragen Verantwortung für ihre Entscheidungen und Gestaltungen. Produkte (als Ergebnisse von Gestaltungsentscheidungen) gestalten die Gesellschaft und die Gesellschaft gestaltet Produkte bzw. sich Selbst als Produkt ihrer Entscheidungen. Wenn Produkte Ergebnisse menschlicher Arbeit sind, dann trägt auch jeder Mensch mit Gestaltungsmacht Verantwortung. Der Mensch als Wähler:in, Konsument:in, Arbeitgeber:in, Arbeitnehmer:in, Freund:in usw.. Alles ist Design, alle sind Designer:innen, jede:r entscheidet und gestaltet die Transformation, den Weg aus der Krise. Die Aufgabe ist groß und komplex und jede:r Einzelne (egal in welcher Rolle) ist mit der Gesellschaft verbunden, kann und muss Wirkung gestalten und diese beeinflussen.

Richard Buckminster Fuller (1972) verglich die Menschen als Einzelne und insbesondere sich selbst („Call me trimtab“ steht auf seinem Grabstein) mit einer Trimmungsklappe am Ruder eines Schiffes. Eine leichte Bewegung an der kleinen Trimmungsklappe baut einen niedrigen Druck auf, der das Steuer herumzieht und den Kurs des Ganzen (nicht nur eines Schiffes) langsam ändert. Auch ein kleines Element hat Wirkung auf ein System (die Gesellschaft) und wenn Probleme Systemänderungen betreffen, sind Trimmklappen die Hebel, die bereits im System vorhandene Kräfte nutzen, um die Änderung voranzutreiben.

 

„Something hit me very hard once, thinking about what one little man could do. Think of the Queen Mary – the whole ship goes by and then comes the rudder. And there’s a tiny thing at the edge of the rudder called a trim tab. It’s a miniature rudder. Just moving the little trim tab builds a low pressure that pulls the rudder around. Takes almost no effort at all. So I said that the little individual can be a trim tab. Society thinks it’s going right by you, that it’s left you altogether. But if you’re doing dynamic things mentally, the fact is that you can just put your foot out like that and the whole big ship of state is going to go. So I said, call me Trim Tab.” (Buckminster Fuller, Buckminster Fuller Institute, URL: https://www.bfi.org/2015/03/16/activating-the-trim-tabs/ [Abrufdatum: 07.03.2022])

 

Dennoch müssen die Kräfte gebündelt werden und ohne politische Entscheidungen in Form von Gesetzen, Verboten, Steuern und Abkommen wird sich die Transformation wohl auch nicht umsetzen lassen. „Die ‚Verbesserung des Lebens der Bürger der Welt‘ und das Überleben des Menschen und der Biodiversität des Planeten können nicht angestrebt werden, ohne dass der fundamentale Wert des Gemeinsamen im Zeichen des Gemeinsinns kultiviert wird. Die Ambivalenz zwischen individuellen und gemeinsamen Interessen, zwischen lokaler und weltweiter Souveränität, zwischen Sicherheit und Freiheit erfordert es, diesen Wert neu zu modellieren und wirksam zu machen. Eine langjährige Transformation, der man gewiss auch dem liberalen Kapitalismus nicht zuversichtlich freie Hand lassen kann.“ (Ruedi Baur, a. a. O., S. 10-11)

Der politische Kontext prägt die Entscheidungen, die im Design getroffen werden, jedes designte Objekt hat einen politisch-gesellschaftlichen Hintergrund, vor dem es gestaltet und auch beurteilt wird. Die Rahmenbedingungen (z. B. technische, patentrechtliche, ökonomische und gesellschaftlichen Umstände) und etablierten Vorgehensweisen beim Entwerfen müssen hinterfragt, umgewandelt und ausgetauscht werden (vgl. Melanie Kurz, Thilo Schwer, Design Entscheidungen, Über Begründungen in Entwurfsprozessen, S. 04, Stuttgart, 2021), Ordnungsmuster müssen aufgelöst und neue Formen des Zusammenlebens müssen imaginiert werden. (vgl. Friedrich von Borries, Weltentwerfen - Eine politische Designtheorie, a. a. O., S. 02)

 

Aber

Was können wir tun? Was jetzt tun?

 

 

„In der Geschichte des Designs gab es etliche Versuche, Kriterien für Qualitätsurteile über Design zu finden. […] Dabei wurde Design entweder ästhetisch oder funktional […] oder gar nach ökonomischen Erfolgen bewertet. Politische und ethische Kriterien wurden lange abgelehnt.“ (Friedrich von Borries, Weltentwerfen - Eine politische Designtheorie, a. a. O., S. 34)

 

Es gibt also bereits Kriterien, Guidelines, Codices, Manifeste, Thesen, Deals, die für Entscheidungen und Gestaltungen der Zukunft gut sind oder sein könnten:

 

- Dieter Rams, Zehn Thesen für gutes Design (ca. 1987):

https://www.vitsoe.com/de/ueber-vitsoe/gutes-design

 

- Verband Deutscher Industrie Designer, VDID Codex der Industriedesigner: https://www.vdid.de/assets/downloads/codex/VDID_Codex_deutsch.pdf

 

- Friedrich von Borries, RLF Manifest (2013): https://www.friedrichvonborries.de/sites/friedrichvonborries.de/files/dateien/dokumente/syana_manifest.pdf

 

- Friedrich von Borries, Weltentwerfen Manifest (2016):

„Gutes Design ist nicht unterwerfend, sondern entwerfend. […] Gutes Design hilft beim Überleben. […] Gutes Design ermöglicht es, Unsicherheit auszuhalten. […] Gutes Design entwirft pragmatische Utopien. […] Gutes Design gibt dem Selbst Freiheit. […] Gutes Design entwirft die Welt.“ (Friedrich von Borries, Weltentwerfen, Eine politische Designtheorie, S. 37-137, Berlin, 2016)

 

- Andreas Koop, Kein Manifest, keine Anleitung - Kriterien, was werteorientiertes Design sein kann (2019):

Andreas Koop, Schön und gut, Was werteorientierte Gestaltung verändern kann, S. 150-152, Basel, 2019

 

- Europäische Kommission, European Green Deal:

https://ec.europa.eu/info/strategy/priorities-2019-2024/european-green-deal_de

 

- Stefan Diez, Circular Design Guidelines (2021):

https://www.diezoffice.com/circular-design-guidelines/

 

- …weitere Vorschläge gerne an: info@eaoe.de

 

 

 

->Tipp: Newsletter „Trimtab“: „aktuelle Informationen aus dem Buckminster Fuller Institut-Programm und Nachrichten aus der ganzen Welt, die sich mit der ‚Option der Menschheit auf Erfolg‘ und umfassenden Designlösungen befassen“: https://www.bfi.org/newsletter/

 

Anthony Dunne, Fiona Raby, Spekulative Everything, design, fiction, and social dreaming, Cambridge/Massachusetts, 2013

 

Ernst Neufert, Architekt und Herausgeber der Bauentwurfslehre (1936), einem Standardwerk für Normung und Bauplanung. https://byarchlens.com/wp-content/uploads/2020/11/Neufert-4th-edition.pdf

 

"Nautos" ist eine Sammlung von vielen internationalen Normen und technischen Regeln und ein Normverwaltungssystem für Unternehmen. https://www.beuth.de/de/normen-management/nautos

 

„Das Deutsche Institut für Normung e.V. (DIN) ist die unabhängige Plattform für Normung und Standardisierung in Deutschland und weltweit.“ Das Din Magazin: https://www.din.de/de/din-und-seine-partner/publikationen/din-magazin 

 

->Frage: Was ist ein großer Wunsch?

 

11

Big Data / Freie Entscheidung / Glücklicher Zufall

 

Die Tatsache, dass die Medien für uns personalisiert werden, führt dazu, dass wir nur noch in Teilen in einer gemeinsamen Realität zusammenleben. Wir leben in unterschiedlichen Communities und jede davon hat ihr eigenes Contentangebot, vom Computeralgorithmus empfohlen - unsere individuelle Filterblase, unsere (Media-)Realität. Datenkraken treffen für uns die Entscheidungen und gestalten unsere Realität. Weil sie uns immer weiter kennenlernen und bald besser zu kennen scheinen als wir uns selbst, setzen sie uns Inhalte und Dinge vor, die wir konsumieren - Wissen, Informationen, Produkte, Meinungen und mehr. Big Data ist eine riesige Datenmenge und Bibliothek unserer Vorentscheidungen, sie ist die Technologie zur Verarbeitung und Auswertung dieser und führt zu Entscheidungen, die nicht nur berechenbar sind, sondern gezielt unsere Realität gestalten. (siehe-> 14) Wie man hier die Freiheit von Entscheidungen beurteilen kann, fällt schwer. Irgendwie müssen wir erst einmal wieder heraus aus diesen ganzen Nutzer:innendatensammlungen, Cache leeren und Cookies löschen, wir müssen unberechenbar werden, irritieren - rechts blinken - links abbiegen. Wenn wir online keine freie Entscheidung mehr treffen (können) und sich dieses auch auf unsere offline-Entscheidungen auswirkt und somit auf die Gestaltung unserer Realität, dann kann der Zufall vielleicht helfen?! Der Zufall als etwas, das man nicht vorausgesehen hat, das nicht beabsichtigt war, das unerwartet geschah. („Zufall“ auf Duden online, URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Zufall [Abrufdatum: 03.02.2022]) Einfach mal zufällige Entscheidungen treffen, sich bewusst für den Zufall entscheiden und die Gestaltung der Situationen hinnehmen, die sich daraus ergibt. Dafür ist es wichtig, sich bewusst zu werden, dass man gerade eine Entscheidung trifft, bzw. die Möglichkeit hätte, eine Entscheidung zu treffen. (siehe-> 06) Und dann spielt Glück vielleicht eine entscheidende Rolle, denn Glück ist laut Definition das, was Ergebnis des Zusammentreffens besonders günstiger Umstände ist, also ein besonders günstiger Zufall. („Glück“ auf Duden online, URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Glueck [Abrufdatum: 03.02.2022])

 

Ein Experiment: Man nehme einen symmetrischen Gegenstand (Ring/Münze), der auf der einen Seite „einfach machen“ und auf der Rückseite „lieber lassen“ eingraviert hat. In Entscheidungssituationen, die man bewusst bereit ist an den Zufall abzugeben, wird der Ring bzw. die Münze geworfen und die jeweilige Entscheidung angenommen. Inwieweit die Entscheidungssituation, in der man sich befindet, dabei zufällig ist, bleibt allerdings offen. Voraussetzung ist, dass die Entscheidungsoptionen aus zwei Möglichkeiten bestehen, bzw. auf zwei Möglichkeiten reduziert werden oder aber die Entscheidungsoptionen nacheinander abgefragt werden (wobei sich die Wahrscheinlichkeit für das Eintreffen der jeweiligen Option allerdings erhöht bzw. sinkt). Protokollarisch wird das Datum, die Entscheidungssituation, das Zufallsergebnis und die persönliche Bewertung mit dem Ausgang des Ergebnisses bzw. der sich gestaltenden Situation nach (Aus-)Wirkung der Entscheidung festgehalten. Damit wird das resultierende Glück bzw. der besonders günstige Zufall dokumentiert. Aus dieser Dokumentation einer Zeichenreihe lässt sich vielleicht langfristig ein eigenes Schema für die Wahrscheinlichkeit von glücklichen Zufallsentscheidungen zur Lösung eines Problems der Entscheidungsfindung formen. Denn lässt sich nicht auch Glück kanalisieren, indem man zum Beispiel seine Wahrscheinlichkeit erhöht? Mehr Lose zieht? Mehr darauf achtet, seine Struktur erkennt, über seinen personalisierten Algorithmus für glückliche Zufälle Bescheid weiß?

 

Personalisierter Algorithmus für glückliche Zufälle / PAFGZ

Phase 1

Person A sendet an sieben aufeinanderfolgenden Tagen drei (separat) Entscheidungen, die sie mit Hilfe der Zufallsmünze getroffen hat, digital an eaoe.

Entscheidungssituation, Optionen (1&2), Zufallsergebnis, Bewertung der (Aus-)Wirkung der Entscheidung in Form von :) oder :(

Phase 2

eaoe wertet die Sammlung aus (kategorisiert die Entscheidungssituationen und prüft Zusammenhänge) und sendet Person A eine individuelle „Handlungsvorschrift“ zur Lösung zukünftiger Entscheidungssituationen unter Einsatz des Zufalls.

Phase 3

Person A wendet die Handlungsvorschrift sieben aufeinanderfolgende Tage an und sendet erneut Entscheidungssituation, Optionen (1&2), Zufallsergebnis, Bewertung der (Aus-)Wirkung der Entscheidung in Form von :) und :( digital an eaoe.

Phase 4

eaoe wertet die Daten aus und formt sie in einen Algorithmus und sendet diesen PAFGZ Person A für deren Zukunft.

 

 

Dass der Zufall hier zufällig bleibt, ist zum Glück sehr wahrscheinlich.

Zufall bleibt Glück, Glück bleibt Zufall. Zum Glück bleibt Zufall was er ist. Zufall bleibt Zufall, was für ein Glück ;)

 

 

->Tipp: Gerd Gigerenzer, Klick. Wie wir in einer digitalen Welt die Kontrolle behalten und die richtigen Entscheidungen treffen. München, 2021

 

->Frage: Was fehlt zum Glück?

  

13

Cradle to Cradle / Garantie / Fehlentscheidungen

 

Entscheidungen und ihre Konsequenzen sind komplex, in vielen Fällen unabsehbar, unbeabsichtigt und bei neuen Ausgangssituationen bzw. in anderen Kontexten oder aus einer anderen Perspektive oft einfach falsch. Fehlentscheidungen wurden getroffen und werden getroffen werden. Es muss (doch) möglich sein, Fehlentscheidungen zu treffen, bewusst und unbewusst, öffentlich wie privat ohne nachhaltig negative Folgen. Wie kann man eine Garantie geben, dass Entscheidungen richtig sind und bleiben?

Eine Garantie bzw. Sicherheit für die nachhaltige Richtigkeit einer Entscheidung wird es wohl nicht geben. Aber sind Entscheidungen nur dann gut, wenn sie es auch bleiben? Und ist das vielleicht nur möglich, wenn sie sich (folgenlos) verändern können? Was wäre, wenn die Entscheidung eine Gestalt annimmt, die die Eigenschaft hat, wieder in ihre ursprüngliche Form zurückzukehren ohne dabei Schaden zu nehmen bzw. anzurichten. Was, wenn eine Entscheidung etwas gestaltet, das folgenlos wieder werden kann, was es einmal war? Wenn die Gestaltung eine Anordnung ist, die sich rückstandslos wieder in ihre Einzelteile zerlegen lässt, gibt es dann nie eine Fehlentscheidung oder nur kurz? Wie lassen sich so Entscheidungen in der Gestaltung treffen, welche Gestaltungsentscheidungen sind nötig und welche Gestaltungsform ergibt sich?

Diese Anforderung geht über den Begriff der Resilienz (in seinem ursprünglichen Sinne aus der Physik kommend) hinaus, denn hier geht es nicht nur darum, nach Einwirkungen von außen in die Form zurückzukehren, sondern um eine Transformation in die ungeformten Einzelteile. Um dann durch neu und anders getroffene Entscheidungen in eine neue, besser den Auswirkungen angepasste Form umgestaltet werden zu können. Müssen Entscheidungen in der Gestaltung also in gesteigerter Form resilient sein, damit sie Fehler möglich machen?

 

C2C

Im Produktdesign könnte das Cradle-to-Cradle-Prinzip eine Art Garantie geben, nicht im Sinne einer Zusicherung, Defekte an einem gekauften Gegenstand kostenlos zu beheben, sondern im Hinblick auf die Richtigkeit der getroffenen (Entwurfs- und auch Kauf-) Entscheidung im Zusammenhang mit Nachhaltigkeit bzw. im Hinblick auf die oben genannte These der gesteigerten Form der Resilienz. Die kreislauffähige Gestaltung (C2C) also als Garantie für eine nachhaltig richtige Entscheidung, da diese (mit dem C2C Ansatz) folgenlos wieder umgestaltet werden kann.

Cradle to Cradle (C2C) ist der Begriff für den Ansatz einer durchgängigen und konsequenten Kreislaufwirtschaft. Das Konzept wurde von dem deutschen Chemiker Michael Braungart und dem US-amerikanischen Architekten William McDonough entworfen und 2002 in einem Buch veröffentlicht (Michael Braungart, William McDonough, Cradle to Cradle: Remaking the Way We Make Things, in der deutschen Übersetzung: Cradle to Cradle, Einfach intelligent produzieren). Angewendet als Konzept für das Design von Produkten soll es eine langfristige Lösung für das Klima- und Ressourcenproblem ermöglichen. Produkte, die nach dem C2C Ansatz hergestellt werden, sind demnach solche, die entweder als biologische Nährstoffe in biologische Kreisläufe zurückgeführt oder als „technische Nährstoffe“ kontinuierlich in technischen Kreisläufen gehalten werden können.

„Das C2C Designkonzept ist die Anleitung dafür. Es ist natürlichen Kreisläufen nachempfunden, in denen jeglicher Abfall Nährstoff für etwas Neues ist. Cradle to Cradle berücksichtigt alle ökologischen, ökonomischen und sozialen Aspekte von Produkten bereits in der Planungsphase. Dabei kommen ausschließlich kreislauffähige Materialien zum Einsatz, die für den konkreten Zweck eines Produkts geeignet sind. Von zentraler Bedeutung ist die Unterscheidung in Verbrauchsprodukte und Gebrauchsprodukte. Die Bestandteile von Verbrauchsprodukten gelangen bei der Nutzung zwangsweise in die Biosphäre. Sie müssen daher komplett biologisch abbaubar sein. […] Bestandteile von Gebrauchsprodukten, die nicht in die Biosphäre gelangen, können endlos in technischen Kreisläufen zirkulieren. Dafür müssen sie sortenrein trennbar sein, so dass sie bei mindestens gleichbleibender Qualität recycelt und zum Nährstoff für etwas Neues werden können. […] Diese Produkte sind Materialbanken, da ihre Ressourcen ihren Wert erhalten und immer wieder verwendet werden können. Produkte können auch Materialien beider Kreisläufe enthalten. […] Neue, zirkuläre Geschäftsmodelle wie Produkt-Service-Systeme unterstützen die Kreislaufführung von Produkten der Technosphäre. [„Unternehmen haben die Möglichkeit, ihre Produkte als Services anzubieten. Nach Ablauf eines festgelegten Nutzungszeitraums oder -szenarios können die Produkte bzw. das Material wieder an die Unternehmen oder direkt an Recycling-Unternehmen zurückgeführt werden. So werden Materialkosten zu Investitionen und die Hersteller*innen zur Materialbank.“ (Cradle to Cradle NGO, URL: https://c2c.ngo/lexikon/ [Abrufdatum: 20.02.2022])] Ob Materialien für ein Produkt geeignet sind, hängt also stets von der geplanten Nutzung ab. Daher muss jedes Produkt individuell für diese Nutzung designt sein und die verwendeten Materialien dafür definiert werden. So entsteht dieselbe Vielfalt wie in natürlichen Ökosystemen – und die sind produktiv, gesund und widerstandsfähig. Sämtliche Produkte müssen ausschließlich mit erneuerbaren Energien aus kreislauffähigen Anlagen hergestellt werden. […] Auch Wasser ist eine wertvolle und knappe Ressource, weshalb es Fabriken in mindestens der gleichen Qualität wieder verlassen muss. Cradle to Cradle berücksichtigt außerdem nicht nur ökologische Probleme, sondern auch deren Zusammenhang mit ökonomischen und sozialen Herausforderungen: Durch faire und menschenwürdige Arbeitsbedingungen entlang aller Wertschöpfungsketten. Wir dürfen nicht nur die negativen Nebenwirkungen unseres Handelns abschaffen oder verringern, sondern müssen positive Wirkungen schaffen und verstärken. Umgestalten heißt daher: Wir designen alles anders, schaffen zirkuläre Geschäftsmodelle und definieren damit neben Produktion auch Konsum neu.“ (Cradle to Cradle NGO, URL: https://c2c.ngo/umgestalten/ [Abrufdatum: 20.02.2022]) Das gemeinnützige Cradle to Cradle Products Innovation Institute (C2CPII) zertifiziert (Cradle to Cradle Certified®) Produkte und Unternehmen nach verschiedenen Faktoren (Materialgesundheit, Wiederverwendbarkeit, Nutzung erneuerbarer Energien, Kohlenstoffmanagement, Wasserqualität, Sozialstandards) und Ebenen der Herstellung, Nutzung und der Wiederverwertung. Es gibt fünf Abstufungen in der Zertifizierung (Basic, Bronze, Silber, Gold und Platin, welches den höchsten Produktstandard kennzeichnet). (vgl. Cradle to Cradle Products Innovation Institute, URL: https://www.c2ccertified.org [Abrufdatum: 17.01.2022])

Ein Produkt, das (im besten Fall aus den Materialien alter Fehlentscheidungen entsteht) sich restlos (bei Netto-Null) in eine bessere Version oder ein anderes Produkt transformieren lässt, bleibt also wahrscheinlich(er) eine gute Entscheidung. Bleibt die Frage, wann ist ein Produkt gut und wann ist es das nicht mehr? Und wer kann Produkte designen und herstellen, die es leisten können, diesem Konzept gerecht zu werden? Muss es in allen Bereichen gesetzlich vorgeschrieben sein, damit es funktioniert und von der Wirtschaft überhaupt in Betracht gezogen wird?

 

Das C2C-Designkonzept ist ein Ansatz für „ganzheitliche Lösungen für zusammenhängende Probleme“ (Cradle to Cradle NGO, URL: https://c2c.ngo/umdenken/ [Abrufdatum: 17.01.2022]), eine Ambition, die komplexe Anforderungen stellt und Fachwissen aus vielen Bereichen benötigt und sie alle mit einschließt. Stimmt also die folgende These? „[…] der an ein Individuum gekoppelte Gestaltungsprozess wird einem vernetzten Arbeiten weichen, das von einer gemeinsamen Urheberschaft und der situativen Anpassung von Prozessen, Einflussgrößen und Rohstoffen geprägt ist. Gestaltung kann dann neue Leitbilder vermitteln und dabei helfen, entstandene Lösungen positiv zu besetzten. Nur so lässt sich eine umfassende Akzeptanz und damit ein nachhaltiger Transformationsprozess initiieren und in Gang halten." (Thilo Schwer, Momente der Entscheidung, Auf dem Weg zu einer Designgeschichte mit Prozessorientierung, in: Melanie Kurz, Thilo Schwer, Design Entscheidungen, Über Begründungen in Entwurfsprozessen, S. 13, Stuttgart, 2021)

Ist die neue Rolle des:der Designers:Designerin dann die eines Produktmanagers? Wird es seine:ihre Aufgabe sein, Informationen, Wissen und Möglichkeiten zu bündeln und Produkt, Material und den produktspezifischen Kreislauf zu designen? (siehe-> 03) Bringt das Gestalten nach dem Prinzip der Nachhaltigkeit aus sich selbst heraus bzw. prinzipiell eine Flexibilität gegenüber Fehlentscheidungen und eine gewisse Resilienz bzw. Garantie für die Richtigkeit von Entscheidungen aller Bereiche (nicht nur Produkt)? Wenn wir (alle) unsere Entscheidungen bei der Befriedigung unserer gegenwärtigen Bedürfnisse so treffen, dass wir nicht riskieren, „[…] dass künftige Generationen ihre Bedürfnisse nicht befriedigen können" (Volker Hauff (Hrsg.), Unsere gemeinsame Zukunft. Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, S. 46, Greven, 1987), dann besteht die Möglichkeit zur Restitution der Ausgangslage nach einer Fehlentscheidung, oder? Was bedeutet das für das Individuum, seine Freiheit im Denken und Handeln? Darüber müsste man noch einmal eine Runde nachdenken. (siehe-> 38)

Im Privaten wäre für den Umgang mit Fehlentscheidungen eventuell eine Art Ablasshandel ein Gedankenexperiment wert: Mit einer Taxonomie (siehe-> 14) werden Entscheidungen und die sich daraus gestaltende Situation bzw. entstehende Konsequenz (für Dritte) nach bestimmten Kriterien (wie z. B. Treibhausgas-Emissionen) klassifiziert und einem Wert zugeordnet. Ziel ist es, innerhalb seines eigenen Kreislaufes bei Netto-Null (= alle verursachten Treibhausgas-Emissionen werden durch Reduktionsmaßnahmen wieder aus der Atmosphäre entfernt) zu kommen und somit die Klimabilanz der Erde netto - also nach Abzug durch natürliche und künstliche Senken - Null beträgt. Ob man es sich „leisten" kann, bestimmte Dinge zu konsumieren (und damit Ressourcen zu verbrauchen), bekommt dann eine andere Bedeutung. Entscheidungen gleichen sich gegenseitig aus, man kann sich Fehlentscheidungen leisten oder nicht. Entscheidungen bekommen auf diese Weise einen Wert, der das Handeln mit anderen Personen und ihren Entscheidungen und Fehlentscheidungen ermöglicht, also einen Emissionshandel im Privaten. Dass dieses Experiment gar nicht mehr nur gedanklich ist, zeigt zum Beispiel die Treibhausgasminderungsquote (THG-Quote), die in Deutschland seit Januar 2022 auch für Besitzer:innen von reinen Batterieautos, elektrischen Motorrädern und E-Rollern von Bedeutung ist. Privatpersonen können sich ihre eingesparten CO2-Emissionen bei Kraftstoffproduzierenden gutschreiben lassen und steigen somit in den Emissionshandel ein, der als marktwirtschaftliches Instrument zur Senkung der Emission von Kohlenstoffdioxid (CO2) und anderen Treibhausgasen bisher nur Unternehmen einschloss (im Rahmen des europäischen und des nationalen Emissionshandelssystem). Ein Ausbau dieses Handels in andere Bereiche wie Fleischkonsum, Reiseverkehrsmittelnutzung usw. ist denkbar. Lastenfahrräder, Solarenergie und mehr werden bereits jetzt durch Bezuschussung subventioniert. Eine Steuer auf Fleisch oder die Vergünstigung von Alternativen kann Entscheidungen beeinflussen. „Gute“ Entscheidungen werden belohnt, Gewohnheiten etablieren sich und die Gesellschaft wird umgestaltet. Noch kann sich jeder selbst (und freiwillig) den persönlichen Beitrag zum „ökologischen Fußabdruck“ errechnen, aber was wäre, wenn es eine öffentliche Datenbank gäbe, wenn Big Data allen Personen eine Bilanz erstellt und diese transparent macht? Wenn sich diese Bilanz nicht nur auf die ökologische Säule der Nachhaltigkeit bezieht, sondern auch auf die soziale? In China wird heute bereits mit einem Sozialkredit-System experimentiert, das (kritisch zu betrachtende) Folgen auf Entscheidung & Gestaltung der Bevölkerung hat.

 

Von der Wiege zur Wiege

Und was wäre, wenn wir an den Ansatz des Kreislaufes für das menschliche Leben glauben? Das C2C Prinzip im wörtlichen Sinne von der Wiege zur Wiege, also über den Tod hinaus denken? Was wäre, wenn wir alle fest an Reinkarnation glauben würden? Wie würde sich das Verhalten (Entscheidung & Gestaltung) verändern, insbesondere in Bezug auf Nachhaltigkeit? Und was wäre, wenn wir dann auch noch daran glauben würden, dass man immer eine Klasse bzw. Schicht tiefer in die Gesellschaft hineingeboren wird? Wie würde sich das Verhalten verändern, insbesondere in Bezug auf soziale Gerechtigkeit? Vielleicht muss eine Religion gestaltet bzw. designt werden, die dieses predigt und alle entscheiden sich für den Glauben daran, vielleicht würde das eine vorausschauende, nachhaltige, gerechte Gesellschaft gestalten. Aber nicht nur eine Religion kann Wertvorstellungen normativ beeinflussen, eine Weltanschauung existiert auch ohne Religion als „(meist von einer größeren Gemeinschaft angenommener) bestimmter, durch Lehre und Satzungen festgelegter Glaube und sein Bekenntnis“ („Religion“ in Duden online, URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Religion [Abrufdatum: 24.02.2022]), oder?

Glauben und handeln Menschen nicht auch so an bzw. nach Prinzipien und Grundsätzen und es braucht gar keine „übernatürliche Erscheinung als religiöse Erfahrung“, sondern nur ein „in jemandes Vorstellung besonders in Bezug auf Zukünftiges entworfenes Bild“? („Vision“ in Duden online, URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Vision [Abrufdatum: 24.02.2022]) Vielleicht reicht also auch eine gemeinsame Vision. (siehe-> 03)

„Die ‚Verbesserung des Lebens der Bürger der Welt‘ und das Überleben des Menschen und der Biodiversität des Planeten können nicht angestrebt werden, ohne dass der fundamentale Wert des Gemeinsamen im Zeichen des Gemeinsinns kultiviert wird. Die Ambivalenz zwischen individuellen und gemeinsamen Interessen, zwischen lokaler und weltweiter Souveränität, zwischen Sicherheit und Freiheit erfordert es, diesen Wert neu zu modellieren und wirksam zu machen.“ (Ruedi Baur: Der Wert der Veränderung, in: Andreas Koop, Schön und gut - Was werteorientierte Gestaltung verändern kann, S. 10-11, Basel, 2019)

--- ——————————> bitte weiterdenken, muss weitergedacht werden, wird weitergedacht . . .

 

->Tipp: Modellprojekt Haus der Statistik am Alexanderplatz in Berlin. Initiative aus kulturellen und sozialen Einrichtungen, Kollektiven und Verbänden, die die Version einer gemeinwohlorientierten Entwicklung und Nutzung von 50.000m2 verwirklichen. #allesandersplatz https://hausderstatistik.org/

 

Haus der Materialisierung, „Labor für nachhaltige Ressourcennutzung“. https://hausdermaterialisierung.org/

 

„Blog Postwachstum: Schaufenster und Ideenwerkstatt für eine wachstumsunabhängige Gesellschaft“. https://www.postwachstum.de

 

Michael Braungart, William McDonough, Cradle to Cradle, Einfach intelligent produzieren, München, 2014

 

->Frage: Was bleibt für immer gut? 

 

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Triage / Taxonomie / Systeme

 

„Die Sichtung, auch Triage genannt, ist ein Instrument, um bei einem Massenanfall von Verletzten oder Erkrankten (MANV) möglichst viele Patienten zu retten. Unter Sichtung versteht man die ärztliche Beurteilung und Entscheidung über die Priorität der medizinischen Versorgung von Patienten hinsichtlich Art und Umfang der Behandlung sowie Zeitpunkt, Art und Ziel des Transportes.“ (Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, URL: https://www.bbk.bund.de/DE/Themen/Gesundheitlicher-Bevoelkerungsschutz/Triage-Sichtung/triage-sichtung_node.html [Abrufdatum: 14.02.2022]) Es ist die Einteilung von Verletzten oder Erkrankten für die Verteilungsentscheidung bei knappen personellen und materiellen Ressourcen gemeint. Diese Einteilung erfolgt nach Einschätzung des jeweiligen Schweregrades bzw. individueller Erfolgsaussicht einer Behandlung. Der Begriff Triage (von französisch triage, Auswahl, Sortieren, Sichten) kommt aus der Militärmedizin, wird bei MANV und in der Notfallmedizin angewendet und ist im Zusammenhang mit der Corona-19-Pandemie (insbesondere für die Intensivbettenverteilung) im öffentlichen und politischen Gespräch. Es ist eine Methode, um Entscheidungen (vor der vollständigen Diagnose) in Notlagen zu treffen. Definierte Kriterien und Verfahren der Kategorisierung sollen dabei helfen, in den oft ethisch schwer zu beurteilenden Situationen die Entscheidung zu treffen. Fünfstufige Triagesysteme werden in der wissenschaftlichen Literatur als valide Instrumente genannt, um die Krankheitsschwere von Notfallpatienten:Notfallpatientinnen einzuschätzen und strukturiert und verlässlich eine Behandlungspriorisierung vorzunehmen. In kürzester Zeit werden die Patienten:Patientinnen aufgrund von eindeutigen Symptomen eingeschätzt und entsprechend dieser Einschätzung einer von fünf Stufen der Dringlichkeit zugewiesen. (vgl. Michael Christ, Florian Grossmann, Daniela Winter, Roland Bingisser, Elke Platz, Triage in der Notaufnahme Moderne, evidenzbasierte Ersteinschätzung der Behandlungsdringlichkeit, Deutsches Ärzteblatt, Jg. 107, Heft 50, 2010 URL: https://www.aerzteblatt.de/archiv/79711/Triage-in-der-Notaufnahme [Abrufdatum: 13.02.2022]) „Die heute in der Ausbildung allgemein vermittelten Regeln für die Triage bei Massenanfall von Verletzten sind darauf ausgerichtet, dass möglichst viele Personen das Ereignis mit möglichst wenig Schaden überstehen. Damit versucht man das bestmögliche Ergebnis für das Kollektiv der Geschädigten zu erzielen, wobei das Interesse des Einzelnen zurückstehen muss. Wird niemand benachteiligt, liegt auch keine Triage vor.“ („Triage“ in wikipedia, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Triage [Abrufdatum: 05.02.2022]) Die Kriterien, nach denen die pandemiebedingt auftretende Triage stattfindet, werden vom Deutschen Ethikrat und den medizinischen Fachgesellschaften formuliert und vorgeschlagen. Nach der aktuellen öffentlichen Diskussion und einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (im Zusammenhang mit Artikel 3 des Grundgesetzes und dem Verdacht der Benachteiligung von Menschen mit Behinderung) muss sich aber auch die Politik mit den Richtlinien befassen. Der „Deutsche Ethikrat“ (als unabhängiger Sachverständigenrat) hat im März 2020 eine Ad-hoc-Empfehlung formuliert. „Mit dieser Ad-hoc-Empfehlung bietet der Deutsche Ethikrat eine Orientierungshilfe inmitten der nationalen und globalen Krise, die Anfang 2020 durch die weltweite Verbreitung des neuartigen Coronavirus ausgelöst wurde.“ (Deutscher Ethikrat, URL: https://www.ethikrat.org/publikationen/publikationsdetail/?tx_wwt3shop_detail%5Bproduct%5D=135&tx_wwt3shop_detail%5Baction%5D=index&tx_wwt3shop_detail%5Bcontroller%5D=Products&cHash=a37377aedcc6b8b131fce9a9146f9095 [Abrufdatum: 13.02.2022]) Der Ethikrat benennt darin zwei bestehende ethische Kernkonflikte. Einer besteht „darin, dass es Infektionen mit teilweise erheblich freiheitsbeschränkenden Maßnahmen einzudämmen gilt, um ein dauerhaft hochwertiges, leistungsfähiges Gesundheitssystem zu sichern, und zugleich die resultierenden schwerwiegenden gesellschaftlichen Nebenfolgen möglichst gering gehalten werden müssen. Die zur Bewältigung dieses Konflikts erforderliche Abwägung konkurrierender moralischer Güter ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.“ Als zweiten Konflikt thematisiert er die Situation, „in denen Ärzte zu entscheiden gezwungen sind, wer vorrangig intensivmedizinische Versorgung erhalten und wer nachrangig behandelt werden soll.“ (Deutscher Ethikrat, a. a. O.) Damit stellen die Ad-hoc-Empfehlungen eine Entscheidungshilfe für den Umgang mit Triage-Situationen (im Zusammenhang mit der Intensivbettenverteilung in Kliniken) dar und sollen der zu entscheidenden Personen zur Konfliktlösung, die „mit schweren seelischen Belastungen verbunden sind“ helfen. (Deutscher Ethikrat, Solidarität und Verantwortung - Ad-hoc-Empfehlung, S. 04, Berlin 2020, URL: https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/ad-hoc-empfehlung-corona-krise.pdf [Abrufdatum: 13.02.2022]) Mehrere wissenschaftliche medizinische Fachgesellschaften (Mitgliedsgesellschaften in der AWMF) haben ebenfalls gemeinsam Kriterien festgelegt, die Entscheider:innen in kritischen Situationen entlasten sollen. Zentrales Kriterium für die Entscheidungen, falls das medizinische System in der Corona-Pandemie an seine Kapazitätsgrenzen kommt, ist demnach die Überlebenschance. Wenn nicht mehr alle schwer erkrankten Personen auf der Intensivstation aufgenommen werden können, empfehlen die Fachgesellschaften die Einschätzung auf klinische Erfolgsaussicht als zentrales Entscheidungskriterium. Dabei wird berücksichtigt, wie schwer die Grunderkrankungen der Patienten:Patientinnen sind, wie sehr weitere Krankheiten die Überlebenschancen mindern und wie es um die Gebrechlichkeit der Person steht. Dieses ist ein Unterschied zu der sonst üblichen Notfallmedizin, bei der im Regelfall zunächst diejenigen versorgt werden, die am dringendsten Hilfe brauchen und am schwersten verletzt oder erkrankt sind. (vgl. Leander Beil, Triage wegen Corona? Was man darunter versteht, 28.12.2021, Bayerischer Rundfunk, URL: https://www.br.de/nachrichten/wissen/triage-wegen-corona-was-man-darunter-versteht,SJWkFfP [Abrufdatum: 04.02.2022]) Statt von Triage wird hier aus diesem Grund meist von Ersteinschätzung gesprochen, denn man geht davon aus, dass es genügend Behandlungsmöglichkeiten für alle Betroffenen gibt und will sicherstellen, dass die Behandlung dem bzw. der Gefährdetsten zuerst zukommt. Während in der Ambulanz also in Notfallstufen kategorisiert wird und dann nach Dringlichkeit entschieden wird, soll im Zusammenhang mit Corona die Überlebenswahrscheinlichkeit (mit Intensivbettbehandlung) bewertet und dann nach der Höhe dieser entschieden werden. Die Triage dient also der Einteilung, um Patienten:Patientinnen (nach bestimmten Kriterien) zu kategorisieren und dann (nach festgelegten Regeln) die Entscheidung über die weitere (Be-)Handlung treffen zu können. Sie kommt dann zum Einsatz, wenn der Bedarf die Kapazität überschreitet und hat zum Ziel, mit den verfügbaren Mitteln das Maximum an Überlebenden zu erreichen. Sie dient letztlich der Lösung eines Konfliktes in einer Situation, „in der Kräfte von annähernd gleicher Stärke und entgegengesetzter Richtung auf die Person einwirken.“ (Kurt Lewin, Feldtheorie in den Sozialwissenschaften, S. 293, Bern, 1963) (siehe-> 06) Eine wichtige Maßnahme, die sowohl in der Ersteinschätzung als auch für die Triage gilt, ist die kontinuierliche Re-Evaluation. In nachfolgenden Sichtungen wird regelmäßig eine erneute Zustandsbeurteilung des:der Patienten:Patientin vorgenommen und die Beständigkeit der zugeteilten Sichtungskategorie überprüft und dementsprechend reagiert. Auch die genannten Ad-hoc-Kriterien des Ethikrates und die Leitlinien der Fachgesellschaften werden regelmäßig überprüft und überarbeitet bzw. (aufgrund sich verändernder Umstände) angepasst. Die Kriterien des Ethikrates sind nicht verpflichtend, sondern „Empfehlungen für politisches und gesetzgeberisches Handeln“ (Bundesministerium der Justiz, URL: https://www.gesetze-im-internet.de/ethrg/BJNR138500007.html [Abrufdatum: 14.02.2022]) und „die ‚Leitlinien‘ der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften sind systematisch entwickelte Hilfen für Ärzte zur Entscheidungsfindung in spezifischen Situationen. Sie beruhen auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und in der Praxis bewährten Verfahren und sorgen für mehr Sicherheit in der Medizin, sollen aber auch ökonomische Aspekte berücksichtigen. Die ‚Leitlinien‘ sind für Ärzte rechtlich nicht bindend und haben daher weder haftungsbegründende noch haftungsbefreiende Wirkung.“ (AWMF-Institut für Medizinisches Wissensmanagement, Leitlinien, URL: https://www.awmf.org/leitlinien.html [Abrufdatum: 14.02.2022])

In Situationen echter Knappheit ist die (Verteilungs-)Entscheidung existenziell und bestimmt über Leben und Tod. Grundlegender und schwieriger können ethische und rechtliche Fragen kaum sein. In solchen Konfliktsituationen gibt es trotz Kriterien und Empfehlungen keine Sicherheit, dass die Entscheidungen richtig sind oder langfristig im Konsens für richtig gehalten werden, sondern allenfalls eine vorzugswürdige Entscheidung. Aus dem zugrunde gelegten Verhältnis von Recht und Ethik folgt, nach welchen Kriterien diese Entscheidung getroffen wird. Ethik kann unabhängig vom Recht, als Alternative und gegebenenfalls Kontrapunkt zu diesem gedacht werden. „Vorzugswürdig erscheint uns hingegen ein Ethikverständnis, das das geltende Recht – als Ausdruck demokratischer Selbstbestimmung – konsequent mitreflektiert und zumindest als Referenzpunkt akzeptiert.“ (Steffen Augsberg, Angehörender des Deutschen Ethikrats, auf Pressekonferenz vom 07.04.2020, URL: https://www.medhochzwei-verlag.de/News/Details/78640 [Abrufdatum: 18.02.2022]) „Die aktuell zu klärenden Fragen berühren die gesamte Gesellschaft; sie dürfen nicht an einzelne Personen oder Institutionen delegiert werden. Gerade schmerzhafte Entscheidungen müssen von den Organen getroffen werden, die hierfür durch das Volk mandatiert sind und dementsprechend auch in politischer Verantwortung stehen. Die Corona-Krise ist die Stunde der demokratisch legitimierten Politik“, so der Ethikrat. (Deutscher Ethikrat, Ad-hoc-Empfehlung. a. a. O., S. 07) Der Ethikrat verweist hier auf ein weiteres System (das Rechtssystem), um richtige(re) Entscheidungen treffen zu können. Das geltende Recht ist ein Ordnungssystem, dessen „Ziel es ist, das Zusammenleben in einer Gesellschaft verbindlich und auf Dauer zu regeln bzw. soziale Konflikte zu vermeiden.“ (Bundeszentrale für politische Bildung, Klaus Schubert, Martina Klein, Das Politiklexikon, 7., aktual. u. erw. Aufl. Bonn, 2020, URL: https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/politiklexikon/18104/recht/ [Abrufdatum: 18.02.2022]) Das Rechtssystem in Deutschland regelt die Rechtsbeziehung der einzelnen Bürger:innen untereinander und somit den bürgerlichen Alltag (Privatrecht) und die Beziehungen des:der Einzelnen zur öffentlichen Gewalt (Staat, Land, Gemeinde, öffentliche Körperschaft) und die Beziehungen der öffentlichen Gewalten zueinander (öffentliches Recht). (vgl. Horst Pötzsch, Die deutsche Demokratie, 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage,Bundeszentrale für politische Bildung, S. 137-143, Bonn, 2009 URL: https://www.bpb.de/themen/politisches-system/deutsche-demokratie/39392/rechtssystem/) Regeln sind „[…] in Übereinkunft festgelegte, für einen jeweiligen Bereich als verbindlich geltende Richtlinie.“ („Regel“ in Duden online, URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Regel [Abrufdatum: 18.02.2022]) Das Recht mit seinen Regeln kann als eine Sammlung von (allgemeingültigen) Vorentscheidungen betrachtet werden, die nötig sind, um das System Staat funktionieren zu lassen. Es nimmt den einzelnen Mitgliedern Entscheidungen ab oder gilt als Richtlinie für diese, es gestaltet das Zusammenleben unserer Gesellschaft. Dass diese Regeln eine Art Freiheit bzw. Unklarheit oder auch Offenheit in der Entscheidung und Gestaltung ihrer Auslegung bzw. Anwendung haben, wird dadurch deutlich, dass es Rechtsmittel wie Berufung und Revision erlauben, eine gerichtliche Entscheidung anzufechten und ihre Nachprüfung durch ein höheres Gericht zu verlangen. Durch diesen möglichen Weg durch die Instanzen werden die Entscheidungen, die aus dem Ordnungssystem Recht getroffen werden, evaluiert. Auch das Recht (bzw. seine Gesetze) selbst wird re-evaluiert, Gesetzte werden geändert oder neu bestimmt. Auch dies geschieht über ein System aus mehreren Instanzen bzw. „für eine Entscheidung zuständige Stelle.“ („Instanz“ in Duden online, URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Instanz [Abrufdatum: 05.02.2022]) Innerhalb der einzelnen Gerichtsbarkeiten bzw. Gerichtszweige (ordentlichen Gerichtsbarkeit, Verwaltungsgerichtsbarkeit, Finanzgerichtsbarkeit, Arbeitsgerichtsbarkeit, Sozialgerichtsbarkeit) bestehen mehrere Instanzen, das sind Stufen des gerichtlichen Verfahrens, die einander übergeordnet sind. In der Regel gibt es drei Instanzen, die ersten beiden sind Gerichte der Länder, die oberste Instanz ist ein Bundesgericht. Der Zugang zur bzw. die Zuständigkeit der Gerichtsbarkeit und einer bestimmten Instanz ist gesetzlich geregelt. Wird gegen die erstinstanzliche Entscheidung ein Rechtsmittel eingelegt, kommt der Rechtsstreit in die nächsthöhere Instanz. (vgl. Horst Pötzsch, a. a. O.) Je differenzierter und komplexer die Entscheidungssituationen bzw. die Konflikte sind, umso mehr Entscheidungsinstanzen gibt es horizontal (auf Schwerpunktthemen spezialisierte Instanzen) wie vertikal (überprüfende übergeordnete Instanzen). Die rechtlichen Rahmenbedingungen gestalten Entscheidungen auf allen Ebenen bzw. in allen Bereichen. Dieses Ordnungssystem bzw. Rechtssystem „funktioniert“ (unter anderem), weil es auf Regeln basiert, die in Übereinkunft der Beteiligten bzw. Betroffenen festgelegt und mitgestaltet werden, es wird von der Gesellschaft getragen. „Die Gesellschaft, als ein durch Vertrag (Gesellschaftsvertrag) geregelter Zusammenschluss von Personen zu einem bestimmten Zweck. Aus dem Vertrag entstehen die Rechte und Pflichten der Gesellschafter untereinander. Nach dem (philosophischen) Konzept des Naturrechts entsteht auch der Staat durch einen Gesellschaftsvertrag seiner Bürger (Verfassung).“ (Bundeszentrale für politische Bildung, Lennart Alexy, Andreas Fisahn, Susanne Hähnchen, Tobias Mushoff, Uwe Trepte, Das Rechtslexikon, Begriffe, Grundlagen, Zusammenhänge, Bonn, 2019)

Das Regierungssystem regelt die Gestaltungsbeteiligung der Bürger:innen in Entscheidungsfragen. Mit der Bundestagswahl treffen Bürger:innen die Entscheidung, wen sie als Vertretung ihrer eigenen Interessen bei gesamtgesellschaftlichen Entscheidungsfragen wählen. Die Verfassung (Grundgesetz) als übergeordnetes Ordnungssystem regelt wiederum, wie diese gesamtgesellschaftlichen Entscheidungen zu treffen sind (Teilung der Entscheidungsgewalten, Gewaltenteilung). „Diese Grundordnung gilt vor und über allem anderen staatlich geschaffenen Recht, sie legt die Grundstruktur und die politische Organisation des Gemeinwesens (z. B. des Staates) fest, regelt das Verhältnis und die Kompetenzen der (Staats-)Gewalten untereinander und enthält die (Freiheits- und) Grundrechte der Bürger und Bürgerinnen (Bürger/Bürgertum) . Aufgrund der Vorrangstellung der V. sind ihre Änderung und Ergänzung erschwert bzw. unzulässig.“ (Klaus Schubert, Martina Klein, a. a. O.)

 

Eine Grundstruktur und politische Organisation für das Gemeinwesen über den Staat Deutschland hinaus ist die Europäische Union. Dort steuert ein System aus Organen die Entscheidungen, die alle Mitgliedsstaaten gemeinsam betreffen und gestaltet somit auch das Zusammenleben in den einzelnen Ländern. Gerade für Probleme, die ihre Ursache grenzübergreifend haben, ist es notwendig, mit Entscheidungen in die Gestaltung aller Mitgliedsländer einzugreifen.

Im Rahmen des European Green Deal (Europäische grüne Vereinbarung), der „ein umfassendes und ambitioniertes Projekt und eine Vision (»Leitbild«) der ökologischen Umgestaltung und Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft“ ist, ist die Taxonomie eines der jüngeren Beispiele für ein Entscheidungssystem, das (transformierende) Wirkung auf die Gestaltung der Ökonomie, Ökologie und die Gesellschaft hat. (European Green Deal, Große Hüttmann, Wehling, Das Europalexikon (3.Auflage), Bonn, 2020, URL: https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/das-europalexikon/309407/european-green-deal/ [Abrufdatum: 04.05.2022]) Im Zusammenhang mit den geplanten Transformationen des Green Deals (z. B. in den Bereichen Wasser, Abfall, Energie, Verkehr usw.) ist die Finanzierung dieser ein wichtiges Element. Hier ist die Taxonomie ein Werkzeug, um Kapitalströme in nachhaltige Investitionen umzulenken und damit den Green Deal zu unterstützen. Die Taxonomie bzw. „EU Taxonomy for Sustainable Activities“ ist dabei nur eines von zehn Elementen im „EU Action Plan on Sustainable Finance“, um Veränderungen am Kapitalmarkt zu gestalten. Aber es ist das entscheidende Element, auf dem alle anderen beruhen. Die Taxomonie definiert klare Kriterien, um festzustellen, ob Unternehmen nachhaltig sind oder nicht, alle anderen Elemente des Finanzsystems des Green Deals stehen in Abhängigkeit zu diesen Entscheidungen. Die Taxonomie will Kriterien einziehen, damit die anderen Instrumente funktionieren und z. B. für ein grünes Label für Bankprodukte ganz klar ist (um Greenwashing vorzubeugen), auf welchen Kriterien sich das Label (und die Anlageklasse, die dahinter ist) beruft. Die Taxonomie ist sehr komplex, da sie Kriterien für sämtliche Wirtschaftszweige (alle NACE-Branchen= Statistische Systematik der Wirtschaftszweige in der Europäischen Gemeinschaft, französisch Nomenclature statistique des activités économiques dans la Communauté européenne, abgekürzt NACE, ist ein weiteres System zur Klassifizierung, hier von Wirtschaftszweigen), beinhalten soll, aufgrund derer die Investition in diese in „grün“ oder „nicht grün“ klassifiziert wird. Die Taxonomie ist dabei ein Instrument, das eine einheitliche Klassifikation für nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten liefern und Klarheit geben soll, ob es sich um eine nachhaltige Finanzanlage handelt oder nicht. Sie legt fest, was genau eine grüne Anlageform in den Branchen bzw. den ihnen zuzuordnenden Unterbranchen definiert und ist dabei kein statisches Instrument, sondern als Prozess angelegt, der regelmäßig überprüft und dessen Entscheidungskriterien abgeglichen werden (z. B. mit dem Stand der Technik). Langfristig soll die Taxonomie nicht nur über alle Branchen hinweg klassifizieren, sondern auch über die drei Dimensionen Umwelt, Soziales und Unternehmensführung. Da dieses nicht alles auf einmal erreicht werden kann, hat die EU-Kommission sich entschieden, den Prozess bei der dringlichsten Dimension, der Umwelt, zu beginnen. Angefangen wird die Taxonomie also in Wirtschaftszweigen des Klimaschutzes (Unternehmen, die einen signifikanten Beitrag leisten), der Anpassung an den Klimawandel (Unternehmen, deren Technologien bei der Anpassung helfen) und anderer Umweltbedingungen (Kreislauf, Naturschutz usw.). Die Unternehmen (kapitalmarktorientierte Unternehmen ab 500 Mitarbeitern:Mitarbeiterinnen) arbeiten daran, ihre Taxonomiekonformität messbar zu machen. Dafür gucken sie sich ihre Anteile am Umsatz, an Investitionen und an Betriebsausgaben an, die die Kriterien der Taxonomie erfüllen. Mit der Taxonomie soll Nachhaltigkeit besser messbar gemacht und sollen Finanzprodukte untereinander besser vergleichbar werden. Investmentfonds und andere Anbieter:innen, die ihre Finanzprodukte als grün bzw. nachhaltig labeln, müssen künftig angeben, wie taxonomiekonform diese jeweils sind. Dafür stellt die Taxonomie Tabellen mit konkreten Werten auf. Wenn zum Beispiel in der Branche/NACE-Sektor: Herstellung unter der Aktivität: Aluminium also beispielsweise in ein Aluminiumwerk investiert werden soll, dann gilt das Kriterium CO2-Mitigation und die Werte: Aluminium Produktion Scope1 Direkte Emissionen<1.414 tCO2e/t (EU-ETS Benchmarks), Stromverbrauch für Elektrolyse <15.29 MWh/t, CO2-intensität für Elektrolyse-Strom<100g CO2e/kWh. Diese Werte müssen erreicht bzw. unterboten werden, damit eine Investition am Kapitalmarkt in dieser Kategorie als grün deklariert wird. (vgl. Dr. Matthias Kannegiesser (Sustainable Natives) in WeShyft Webinar: EU-Taxonomie - Game-Changer für nachhaltiges Wirtschaften? URL: https://www.youtube.com/watch?v=9v3SZKTHhNA [Abrufdatum: 04.03.2022]) Durch die Klassifizierung werden nicht die Finanzprodukte selbst bewertet, sondern analysiert, ob die wirtschaftlichen Tätigkeiten, die am Ende durch sie finanziert werden, nachhaltig sind. Das Klassifikationssystem der Europäischen Union verpflichtet die Investoren nicht dazu, ihr Geld in nachhaltigen Projekten anzulegen aber will es ihnen zumindest damit erleichtern und Nachhaltigkeit konkreter definieren. Der Einfluss der Finanzmärkte ist groß, wenn es darum geht, die Welt nachhaltiger zu machen. Geld hat Gestaltungsmacht und ihre Besitzer:innen tragen Verantwortung. Die Entscheidung für eine grüne Investition trägt zur Gestaltung einer besseren Zukunft bei. Möglich also, dass die neue EU-Taxonomie dazu beitragen wird, die Finanzmärkte nachhaltiger zu gestalten und so zum nachhaltigen Wirtschaftswachstum beitragen könnte.

 

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So könnte es weitergehen bzw. es geht so weiter, jedes der Systeme bringt neue Systeme hervor, beruht auf weiteren oder ist mit diesen in Wechselwirkungen vernetzt. Entscheidungen werden durch Systeme und deren Regeln gestaltet. Ein System als „Prinzip, nach dem etwas gegliedert, geordnet wird“ oder eben auch die „Form der staatlichen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen Organisation.“ („System“ in Duden online, URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/System [Abrufdatum: 13.02.2022]) Die Beschreibungen von Triage, Rechtssystem bzw. Verfassung und Taxonomie zeigen, dass das Thema Entscheidung in allen Bereichen Systeme gestaltet bzw. zu der Gestaltung von Systemen führt. Systeme, die Entscheidungen nachvollziehbarer, einfacher, klarer, eindeutiger, präziser, einheitlicher, wiederholbarer, transparenter, vergleichbarer, abstrakter usw. machen. Keines dieser Systeme kann (anscheinend) isoliert betrachtet werden, an irgendeinem Punkt gibt es bei jedem eine Verknüpfung zu einem anderen System. Die Entscheidungsgewalten werden geteilt, gesplittet bzw. gegenseitig kontrolliert. Die Systeme sind untereinander bzw. miteinander verwoben, greifen ineinander. Ein Netzwerk aus Systemen der Ordnung, aus Systemen für Entscheidungen, die in starken oder schwachen Beziehungen zueinander stehen. Einige von ihnen sind hierarchisch aufgebaut und auch untereinander durch unterschiedliche Ordnungsverhältnisse (über-/untergeordnet) verbunden bzw. stehen zueinander in Beziehung. Hierarchisch sowohl bei den Entscheidungsträger:innen, als auch bei den Entscheidungen (bzw. der Regeln, Ordnung, Richtlinien zu ihnen). So gibt es vorangestellte wichtigere Entscheider:innen und Entscheidungen und untergeordnete Entscheidungen. Ein Merkmal der Systeme ist die Möglichkeit, die Entscheidungskriterien der Systeme zu überarbeiten oder aufgrund des Systems getroffene Entscheidungen erneut zu überprüfen (Re-Evaluation).

 

Die ganze Welt scheint sich in Systemen der Entscheidung zu gestalten, die wiederum in der Gestaltung eines Netzwerkes zueinander in Beziehung stehen. Es scheint, als wäre die ganze Welt in Systemen gestaltet, die versuchen, die Komplexität bzw. Konflikte durch gestaltete Entscheidungswege zu lösen.

 

Die zuvor beschriebenen Systeme lassen sich in der Gestalt von Diagrammen darstellen. Entscheidungsfindungen gestalten sich in diesen Systemen als ein linearer Prozess mit hierarchischen Abhängigkeiten. Die feste Reihenfolge der Entscheidungsprozesse gleicht einer grafischen Darstellung eines Arbeitsablaufes aus der elektronischen Datenverarbeitung (Datenflussdiagramm). (Auch die grafische Darstellung in der Gestalt eines Baumdiagramms ist im Zusammenhang mit Entscheidungen üblich. Mit einem sog. Entscheidungsbaum werden z. B. in der Stochastik bedingte Wahrscheinlichkeiten veranschaulicht.) Schritt für Schritt werden so komplexe Abläufe des Entscheidungsprozesses verständlich und übersichtlich dargestellt. Diese Systeme brauchen ein (im Vorfeld) definiertes Ziel und Regeln (Anweisungen). Lösungen für Entscheidungsprobleme lassen sich dann durch Systeme gestalten, die ähnlich wie bei einem Programmablauf in der Programmierung abschnittsweise Entscheidungen treffen und so einen Lösungsweg gestalten. In den unterschiedlichen Abschnitten (der mehrstufigen Triage bzw. dem Instanzenzug) werden bedingte Anweisungen durchlaufen, es wird ausgewertet bzw. entschieden, ob Bedingungen (nach den dafür geltenden Regeln, die im Vorfeld klar definiert sind) zutreffen oder nicht (wahr oder falsch). Ein nächster Programmabschnitt wird nur ausgeführt, wenn eine bestimmte Bedingung zutrifft bzw. wenn es eine Verzweigung gibt. Ein anderer Abschnitt wird dann ausgeführt, wenn die Bedingung nicht zutrifft. Die Verzweigung legt fest, welcher von zwei oder mehreren Programmabschnitten, abhängig von einer oder mehreren Bedingungen, ausgeführt wird. (vgl. Universität Hannover, Regionales Rechenzentrum für Niedersachsen, URL: https://www.luis.uni-hannover.de/fileadmin/kurse/material/CKurs/c3_schleifen.pdf [Abrufdatum: 06.03.2022]) Die vorgestellten Systeme funktionieren also ähnlich wie die Programmierung eines Computers und ähnlich den hier ablaufenden Entscheidungsprozessen. Es stellt sich die Frage, ob und in welchen Situationen Computer bzw. künstliche Intelligenz bessere Entscheidungen treffen als Menschen? Die Unterscheidung zwischen komplizierten und komplexen Situationen sei hier entscheidend, meint der Statistiker und Professor für Risikoforschung David John Spiegelhalter: „Komplizierte Situationen sind jene, die wir mit Regeln beschreiben können. […] Hier können Algorithmen mit ihren logischen Lösungswegen uns helfen. Aber die Welt ist komplex. Sie lässt sich meist nicht ausreichend genau mit Regeln beschreiben. In komplexen Systemen sind wir Menschen den angeblich so intelligenten Maschinen weit überlegen. Weil wir kausale Abhängigkeiten und Wechselwirkungen verstehen, wo Algorithmen nur Korrelationen erkennen.“ (David John Spiegelhalter in Thomas Ramge, Entscheidungs-Maschinen, Brand eins Magazin, Hamburg, 2019, URL: https://www.brandeins.de/magazine/brand-eins-wirtschaftsmagazin/2019/komplexitaet/entscheidungs-maschinen [Abrufdatum: 06.03.2022]) Korrelationen sind Muster, aus denen sich statistische Vorhersagen ableiten lassen. Der Computer sieht das Muster, der Mensch versteht den Grund. Es gibt die Meinung, dass Korrelationen in vielen Situationen bessere Entscheidungshinweise geben als ein tiefes Verständnis der Zusammenhänge: „Chris Anderson, langjähriger Chefredakteur von ‚Wired‘, machte diesen Gedanken 2008 in seinem Aufsatz ‚End of Theory‘ populär. Die statistische Analyse von großen Datenmengen, so Anderson damals, werde künftig weit mehr neue Erkenntnis bringen als theorielastige Wissenschaft und ihre Suche nach Kausalitäten.“ (Thomas Ramge, a. a. O.) Francis de Véricourt (Professor für Entscheidungsfindung an der European School of Management and Technology in Berlin) steht mit seiner Ansicht zwischen diesen beiden Positionen. „Er unterteilt die Daten-Welt und ihre Wirkung auf Menschen in zwei Arten von Situationen: in jene, in denen digitale Systeme die Wirklichkeit ausreichend genau abbilden können und Algorithmen dank guter Datengrundlage bessere Vorhersagen treffen können als Menschen. Und jene Situationen, ‚in denen Computer aufgrund von Datenarmut weitgehend aufgeschmissen sind‘.“ (vgl. Francis de Véricourt Thomas Ramge a. a. O.) Es geht also um das Sammeln von Informationen bzw. Daten und maschinelles Lernen funktioniert unter anderem mit künstlichen neuronalen Netzen (siehe-> 19), in denen sich selbst verbessernde Algorithmen lernen, Korrelationen immer besser zu erkennen und aus denen der Computer dann Entscheidungen ableitet (siehe-> 11). Was aber eine gute Entscheidung ist bleibt auch hier offen. Denn was ist eine gute Entscheidung und kann man zum Zeitpunkt der Entscheidung wissen wie sie sich auf das (sich ständig verändernde) Leben auswirken wird? Auch im Nachhinein scheint die Bewertung einer Entscheidung relativ zu anderen Optionen kaum möglich. Francis de Véricourt spricht aber von guten Entscheidungsprozessen. „Etwa wenn alle verfügbaren Informationen so gut wie möglich in einem Abwägungsmodell gewichtet werden.“ (Thomas Ramge, a. a. O.) Hier schließt sich der Kreis zum Eingangsthema (der Triage), er hält es „‚für extrem wahrscheinlich‘, dass medizinische Entscheidungen bald ‚in erheblichem Umfang‘ an Computer übertragen werden, allerdings mit einer wichtigen Einschränkung: ‚Die Datengrundlage muss stimmen. Und es gibt viele Situationen, in denen Computer möglicherweise nie genug relevante Daten zur Verfügung haben, um sinnvolle medizinische Prognosen zu errechnen‘.“ (Thomas Ramge, a. a. O.) Es gibt bereits Bestrebungen, Computer statt als Korrelationsmaschinen als Kausaliätsmaschinen (wie das menschliche Gehirn) zu entwickeln, ihnen Kausalzusammenhänge beizubringen, die nicht auf vielen Daten, sondern auf menschlichem Erfahrungswissen beruhen, das auf die Maschinen übertragen wird. Künstliche Intelligenz (KI) muss künftig dem sich entscheidenden Menschen immer wieder die Frage stellen: Warum hast du das gemacht? Wenn ein Computer die Gründe für eine Entscheidung kennt, kann er mit der Zeit die Qualität seiner Entscheidungen verbessern, er erlernt die Fähigkeit der Kausalität und das Analogien ziehen, in der der Mensch ihm bis dato überlegen ist. (vgl. Chris Boos, Experte für KI im Digitalrat der Bundesregierung in Thomas Ramge, a. a. O.) Hier öffnet sich auch gleich ein nächster Kreis: das Thema Gestaltung, Design, Produkt (siehe-> 03) und die damit in Verbindung stehende Macht, Entscheidungs- und Gestaltungsmacht von Design bzw. Produkten. Produkte haben sich zunehmend von passiven Gegenständen zu Apparaten mit Interaktionsmöglichkeiten entwickelt. Gebrauchsgegenstände wie z. B. Computer und Smartphones treten mit uns in einen Dialog, sie sammeln Daten und treffen Entscheidungen. Sie errechnen uns die vermeintlich besten Entscheidungen, suggerieren die Einfachheit der vermeintlichen Optimierung unseres Selbst (mit ihrer Unterstützung). Hier drohen nach Meinung von Designtheoretiker Friedrich von Borries „die Möglichkeiten des Selbstdesigns in einen Zwang zur Selbstoptimierung abzudriften. Denn es besteht die große Gefahr, dass wir uns mehr und mehr der Smartifizierung unterwerfen, anstatt mit Hilfe der neuen Technologien Momente der Freiheit zu entwerfen.“ (Friedrich von Borries, Design formt Gesellschaft - Essay, S. 05, 2019, URL: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/287808/design-formt-gesellschaft-essay/ [Abrufdatum 06.03.2022]) „Gutes Design“ ist entwerfend und versucht „seinen Benutzern und Rezipienten echte Handlungsspielräume, Ermöglichungsräume für ihr Leben zurückzugeben. Es stattet sie mit den Technologien, Werkzeugen, Instrumenten und Symbolen eines selbstbestimmten Lebens aus.“ (vgl. Friedrich von Borries, Weltentwerfen - Eine politische Designtheorie, S. 25, Berlin, 2016) Unterwerfendes Design hingegen reduziert Handlungsoptionen, überwacht, kontrolliert und bevormundet. „Heute werden Menschen mithilfe von Design diszipliniert und kontrolliert, so dass von der Norm abweichendes Verhalten nicht – oder nur erschwert – möglich ist. [...Anderseits könnten Designer] Projekte und Verhaltensanleitungen entwickeln, die unterwerfende Sicherheitsparadigmen aufbrechen und/oder ironisieren." (Friedrich von Borries, zitiert in: Wir entwerfen, also sind wir, Felix Stephan, Zeit online, 2016, URL: https://www.zeit.de/kultur/literatur/2016-11/design-friedrich-von-borries-weltentwerfen-politik-utopie?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com [Abrufdatum: 06.03.2022]) Es scheint ein schmaler Grat zwischen der positiven Wirkung von Entscheidungsmacht der Computer/KI und ihrer negativen Auswirkungen auf die Gestaltung der Welt zu sein. Freiheit und Unfreiheit gilt es immer wieder neu zu beurteilen. Vielleicht wäre es in einer Triagesituation ein Moment von Freiheit, wenn eine Maschine die Entscheidung trifft und die Verantwortung trägt - aber gilt das auch für Entscheidungen in anderen Situationen? Ist es eine Freiheit, wenn man immer die statistisch gesehen „richtige“ Entscheidung treffen kann? Und welche Entscheidungen bleiben übrig bzw. rutschen durch alle Systeme und fallen durch das Netz? Sind das dann Gewissensentscheidungen? Ist dann die Moral das Ordnungssystem für diese Entscheidungen? Die Moral als die „Gesamtheit von ethisch-sittlichen Normen, Grundsätzen, Werten, die das menschliche Verhalten einer Gesellschaft regulieren, die von ihr als verbindlich akzeptiert werden“? („Moral“ in Duden online, URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Moral [Abrufdatum: 05.03.2022]) Es gibt Situationen, in denen das Ziel unklar ist, Problemkategorien, die sich einer linearen Programmierung von Planungsprozessen widersetzen, das sind nach Horst W. J. Rittel (Mathematiker, Physiker und Designtheoretiker) die sogenannten „bösartigen Probleme“. (siehe-> 03) Der Weg zur Lösung von „bösartigen“ Problemen muss als argumentativer Prozess organisiert werden, denn sie haben keine objektiven Kriterien der Beurteilung (richtig oder falsch) einer Lösung. Nach Rittel sind gesellschaftliche Probleme inhärent bösartig: „Im Unterschied zu Problemen in den Naturwissenschaften, die definierbar und separierbar sind, und für die sich Lösungen finden lassen, sind Probleme der Verwaltungsplanung - speziell solche sozialer oder politischer Planung - schlecht definiert, und sie beruhen auf einer unzuverlässigen politischen Entscheidung für einen Lösungsbeschluß. (Nicht Lösung = ‚solution‘, sondern Lösungsbeschluß = ‚resolution‘. Soziale Probleme werden nie gelöst (solved). Bestenfalls erreicht man jeweils einen Lösungsbeschluß - immer wieder neu.).“ (Horst W. J. Rittel mit Melvin M. Webber, Dilemmas in einer allgemeinen Theorie der Planung, S. 21, in: Horst W. J. Rittel, Planen, Entwerfen, Design: Ausgewählte Schriften zur Theorie und Methodik, Stuttgart, 1992, URL: https://blog.hslu.ch/product/files/2013/02/Rittel_Theorie_Planung.pdf [Abrufdatum: 06.03.2022]) Was ist das System für diese Entscheidungen? Was ist mit Entscheidungen, bei denen man ein „warum“ für ihr Treffen nicht erklären kann oder will? Wie sieht das individuelle System für einen linearen Entscheidungsprozess bei einem Konflikt in einer persönlichen Situation aus? Welche Gestaltungsfaktoren sind wichtig? Welche Stufen, welche Schleifen, welche Regeln und Bedingungen?

 

->Frage: Was ist wirklich wichtig?

 

15

Entscheidungen und Leidenschaft / Liebe, Hass und Angst vor dem Tod

 

Werner Büttner: „Jede Generation bildet dieselben Leidenschaften, die der Mensch hat, immer wieder neu ab. Es sind nicht viele Leidenschaften, die wir haben: Liebe, Hass, Angst vor dem Tod. Einen Feind gibt es immer, das ist die Dummheit." (Werner Büttner 2021 im Film zu seiner Ausstellung Last Lecture Show in der Hamburger Kunsthalle 15.10.2021-16.01.2022, URL: https://www.youtube.com/watch?v=DHPDfKy1G80 [Abrufdatum: 02.01.2022])

 

Was Büttner hier wohl auf die künstlerische Form der Abbildung (Gestaltung) bezieht, lässt sich auch mit dem Thema Entscheidung in Verbindung setzen.

 

Wie wäre die Welt, wenn die Freiheit (moralisch und/oder rechtlich) bestünde, dass man aus einem Gemütszustand heraus, der vom Verstand nur schwer zu steuern ist, ein Ziel verfolgt und alle Entscheidungen trifft? Welche Welt würde sich durch Entscheidungen aus Liebe, Hass und der Angst vor dem Tod gestalten? Wie einfach, kompliziert, frei und gefährlich wäre sie? Ist das Anarchie? Wen oder was hasse und liebe ich und habe ich eigentlich Angst vor dem Tod? Kann ich meinen Verstand ausschalten? Und was wäre, wenn es den Verstand nicht gäbe oder wir in einem Rechtssystem leben würden, indem es Pflicht wäre, aus Leidenschaft zu entscheiden? Könnte man dann noch von Entscheidungen sprechen?

 

->Frage: Was macht Angst?

 

19

Fragen / Netzwerk

 

Dinge sind richtig, weil man sie immer schon so gemacht hat. Man hat eine Blaupause, die einem als Muster dient und Sicherheit darüber gibt, mit welcher Wahrscheinlichkeit sich eine (bestimmte) Situation aus einer Entscheidung gestaltet bzw. gestalten wird. Erfahrungswerte wurden gesammelt und fließen in die Gestaltung zukünftiger Entscheidungen ein. Erfahrungen beeinflussen Entscheidungen und Entscheidungen beeinflussen Erfahrungen, gemeinsam formen sie das Selbst: „Wie die Fäden eines Gewebes zu einem Bilde gewirkt werden, so wird das Selbst - als der Gottheit lebendiges Kleid - gewirkt aus den vielen, an sich vielleicht geringfügigen Entscheidungen, zu denen wir uns im Verlauf unseres Lebens veranlaßt sehen.“ (Emma Jung und Marie-Louise von Franz, Die Graalslegende in psychologischer Sicht, S. 141, Olten, 1983) Das gilt für private wie auch für gesellschaftliche oder politische Entscheidungen, für einfachere, alltägliche Entscheidungen, sowie für wichtige Entscheidungen, an denen mehrere beteiligt oder viele von ihnen betroffen sind, im Großen und im Kleinen. Was soll ich kaufen? Wer gehört bestraft? Wie wollen wir leben? Die Wichtigkeit und nachhaltige Wirkung von Entscheidungen und ihren Verkettungen führt zu dem Bedürfnis, nach bestem Wissen (und Gewissen) zu handeln. Es kann also nicht nur für Entscheidungen, in denen man selbst keine Erfahrungen hat und Informationen über die Wahrscheinlichkeit der möglichen zukünftigen Zustände fehlen oder diese obsolet sind, eine Hilfe sein, andere Personen (um Hilfe, Einschätzung oder nach Erfahrungen) zu fragen, sondern auch in Situationen, in denen Wissen fehlt, um ein ganzheitlicheres Bild zu bekommen. Denn um Entscheidungen zu treffen, die nachhaltig zufrieden stellen, bedarf es oft, eine Situation und ihre Optionen aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und von Erfahrungen und Kenntnissen anderer für das Treffen seiner eigenen Entscheidung zu profitieren. Neben neu gewonnenem Beurteilungsvermögen können so auch ganz neue Entscheidungsoptionen gedacht und Entscheidungsmuster neu gestaltet werden. Fragt man Personen aus seinem direkten Umfeld, fließen zwar Erfahrungen mit ein, da die Befragten sich aber meist in einem ähnlichen sozialen Umfeld und ähnlicher Medienrealität befinden und zusätzlich die Gefahr besteht, dass bewusst oder unbewusst die eigenen, sich aus dem Ratschlag ergebenden Konsequenzen mit abgewogen werden, ist die Entscheidungshilfe wenig neu und objektiv. Um eine Entscheidungsfreiheit jenseits des persönlichen Netzwerkes und Filters von Informationen aus Medien und Personenumfeld (siehe-> 11) zu erlangen und sich von seinen eigenen Entscheidungsmustern bzw. Blaupausen zu emanzipieren, muss in ein anderes Netzwerk gesprungen bzw. ein:e weiter entfernte:r Adressat:in im Netzwerk erreicht werden. Ob dabei Personen, die bereits ähnliche Entscheidungen zu treffen hatten (Wissen aus Erfahrungen), befragt werden oder Personen, die durch Fachwissen eine andere Perspektive bieten können, um Phänomene aus einer interdisziplinären Perspektive zu erfassen, bleibt zu entscheiden. Entscheidungen beruhen häufig auf Urteilen über den Wert von Handlungsoptionen, ihre Konsequenzen und deren Wahrscheinlichkeiten. Das Sammeln von Urteilsinformationen über das eigene soziale Netzwerk hinaus kann helfen, um den Konflikt in Entscheidungsfragen zu lösen. (siehe-> 06) Sich ein Interaktionsgeflecht zu gestalten, dass auf persönlichen Kontakten aufbaut und sich selbstständig (in andere Netzwerke) verzweigt, kann zu dieser Sammlung verhelfen. (vgl. Betina Hollstein, Grenzen sozialer Integration - Zur Konzeption informeller Beziehungen und Netzwerke, Wiesbaden, 2001) Das Netzwerk - als ein Verbund zum Zweck der Kommunikation und der gemeinsamen Nutzung von Ressourcen auf Basis gemeinsamer Interessen - kann (im Falle eines Personennetzwerkes) als soziales System verstanden werden, das sich vor allem durch die Qualität von Beziehungen beschreiben lässt. Sinn, Zweck und Bedeutung von Netzwerken sind vielfältig, das Potenzial eines gepflegten Netzwerkes entfaltet sich nicht nur im Privaten, sondern findet auch in modernen Managementkonzepten seine Wertschätzung. Netzwerke können als eine Anordnung von Knoten und Kanten verstanden werden, wobei Knoten die Akteure:Akteurinnen sind (als Gruppe oder Einzelperson), die Kanten verbinden die einzelnen Knoten miteinander und stellen somit eine Beziehung dar, sie dienen als Kanäle, über die Informationen und Wissen transportiert und ausgetauscht werden können. Der Wissensaustausch und Wissenstransfer stehen im komplexen Zusammenhang mit Stärke, Dichte und Reichweite des Netzwerkes. Die Stärke der Beziehung wird durch die emotionale Intensität, den Grad des Vertrauens, der Reziprozität und der gemeinsam verbrachten Zeit bestimmt. Entsprechend der Ausprägung dieser Merkmale lassen sich starke und schwache Beziehungen unterscheiden. Innerhalb starker Beziehungen ist die Motivation der Akteure:Akteurinnen hoch, Informationen und Wissen zu tauschen und weiterzuleiten. Schwache Beziehungen hingegen haben eine offene Struktur, die es Informationen ermöglicht, eine größere Distanz zu überwinden. (vgl. Harald Künemund, Martin Kohli, Soziale Netzwerke, in: Kirsten Aner, Ute Karl, Handbuch Soziale Arbeit und Alter, Wiesbaden, 2010) Je größer die Anzahl der Beziehungen der Akteure:Akteurinnen untereinander, desto dichter ist ein Netzwerk und desto größer die Möglichkeit, Informationen auszutauschen. In welchem Maß die Beziehungen der Akteure:Akteurinnen über das eigenen Netzwerk hinausreichen, wird durch die Reichweite angegeben. Das Netzwerken - als ein Prozess der Kontaktsuche und der gegenseitige Hilfe - basiert auf einem Freundesfreund-Prinzip. Jede Person des Netzwerkes bringt wiederum Teile des eigenen Netzwerkes ein, so entsteht ein Beziehungsgeflecht. Um relevantes Wissen für das Treffen einer speziellen Entscheidung zu gewinnen und sein Netzwerk nutzen zu können, sollte das Ziel in Form von einer klaren Fragestellung definiert und formuliert sein. Wenn klar ist, was man wissen will, wird deutlicher, wen man fragen müsste und kann dann zielgerichtet im eigenen Netzwerk auf die Suche nach einer direkten Antwort oder einer Person mit Kanten zu dem bzw. der passenden Adressat:in gehen. Es geht nicht nur darum, die richtige Ansprechperson zu visieren, sondern mit gleicher Wichtigkeit darum, eine Kontaktperson für diese aus seinem bereits bestehenden Netzwerk auszumachen. Je mehr ein:e Akteur:in in der Lage ist zu netzwerken, umso leichter fällt es ihm:ihr komplexes Wissen zu entwickeln, zu transportieren und mit dem Wissen, das im Netzwerk vorhanden ist, zu kombinieren. In allen Beziehungen wird Informationsaustausch betrieben, soziale Unterstützung wird jedoch zumeist innerhalb von starken Beziehungen angeboten und genutzt. Persönliche Beziehungen sind mit Vertrauen verbunden, die die Bereitschaft zum (ehrlichen) Antworten und zur Hilfe erhöht, gegebenenfalls überhaupt erst möglich macht. (vgl. Jörg Sydow, Stephan Duschek, Netzwerkzeuge, Tools für das Netzwerkmanagement, Wiesbaden, 2013)

Nach der „Die Kleine-Welt-Theorie“ / „The Small World Problem“ ist jede:r soziale Akteur:in auf der Welt mit jedem:jeder anderen Akteur:in über eine überraschend kurze Kette von Bekanntschaftsbeziehungen (Ecken) verbunden. Alle Personen auf der Erde sind über etwa sechs Ecken miteinander vernetzt, die sich jeweils direkt kennen. Direkt kennen meint, dass die Personen sich persönlich kennen und gegenseitig von ihrer Existenz wissen. Die Idee wurde bereits 1929 von dem Schriftsteller Frigyes Karinthy in seiner Erzählung Láncszemek (Kettenglieder) entworfen. In dieser Geschichte wird die These aufgestellt, dass der technologische Fortschritt im Reisen und der Kommunikation die Welt verkleinert. Entfernungen werden zusammengepresst, Zeiten verkürzt und Personen in dichtere Netzwerke verbunden. Der Wissenschaftler Michael Gurevich legte dann im Rahmen seiner Dissertation am Massachusetts Institute of Technology 1961 eine empirische Studie über soziale Netzwerke vor. Der Mathematiker Manfred Koch verwendete Gurevich Ergebnisse, um das Verhalten über den Umfang der Studie hinaus zu beschreiben („Die Kleine-Welt-Theorie“ mathematisch zu extrapolieren). Der Psychologe Stanley Milgram von der Universität von New York City und sein Kollege Jeffrey Travers von der Harvard Universität experimentierten weiter zum „The Small World Problem“. Im Jahr 1978 veröffentlichte Milgram einen Artikel in der Psychology Today, der dazu beitrug, das Phänomen, dass jede Person über sechs weitere Personen mit jeder Person auf der Welt in Kontakt treten kann, zu popularisieren. Forciert wird diese Möglichkeit von Netzwerktheoretikern und IT-Forschern, die „The Small World Problem“ durch die Tendenzen des Web 2.0 mit seinen sozialen Netzwerken und Entwicklungscommunities als glaubhaft ansehen. Über die durchschnittliche Länge der Kette, die zwei Personen verbindet, gibt es allerdings unterschiedliche Ergebnisse. Fest steht, dass man über eine geringe Anzahl (in Relation zu seinen persönlichen Netzwerk und der Größe der Weltbevölkerung) an Kontakten jede:n Zieladressat:in zu erreichen scheint. (vgl. Jeremy Rifkin, Die empathische Zivilisation, Wege zu einem globalen Bewusstsein, S. 347-348, Frankfurt/New York, 2009) Lässt sich theoretisch also jede Zielperson erreichen, so ist das praktische Systemverhalten im Netzwerk vor allem von der Qualität des Beziehungszusammenhangs abhängig. Persönliche Verbindungen und das damit einhergehende Vertrauen sind der entscheidende Faktor. Dies gilt in beide Richtungen, für die Antwortbereitschaft, wie für die Beeinflussung (auf den Entscheidungsprozess) des oder der Fragenden. Ein Überzeugtsein von der Verlässlichkeit einer Person und die Sicherheit, dass deren Informationen richtig sind, sind die Voraussetzung, um das Netzwerk in Entscheidungsfindungsprozessen nutzen zu können. Die persönlichen Verbindungen und das Vertrauen beim Wissensaustausch und beim Teilen von Erfahrungen im Prozess der Ausgestaltung von Entscheidungen ist nicht nur in privaten Netzwerken und für persönliche Fragen entscheidend, sondern wird auch von Unternehmen der Wirtschaft, in der Werbung oder in der Politik kalkuliert berücksichtigt. Reichweite, Kontakte, persönliche Verbindungen bzw. starke Beziehungen zählen beruflich wie privat. Ihre Quantitäten und Qualitäten werden bewertet, Follower:innenzahlen und ein gepflegtes Netzwerk mit guten Verbindungen haben einen Wert. Neben den Blaupausen aus dem eigenen Leben zählen die von Vorbildern. Vertrauen ist die neue Währung. Vertrauen wird im Marketing als großes Instrument genutzt um Kaufentscheidungen zu beeinflussen. Testimonials mit Wiedererkennungswert und Bekanntheit suggerieren eine Nähe, die mit Vertrauen und Glaubwürdigkeit einhergeht und die Entscheidungen von Konsumenten:Konsumentinnen beeinflusst (die Kaufentscheidung für Produkte und Dienstleistungen, Meinungen usw.). Social Media und die sich darin spannenden sozialen Netzwerke haben das Thema (Netzwerk und auch Entscheidungsfindung) um eine Dimension erweitert. Ort, Zeit und Raum erfahren im world wide web eine neue Form und der Zugang zu Informationen, die Kontakte und persönlichen Verbindungen gestalten sich hier anders. Mediale Inhalte werden erstellt und weitergegeben, Kommunikation ist nicht auf einen Kanal beschränkt und die Möglichkeit zu Informationsaustausch und Beziehungsaufbau gegeben. Die digitale Vernetzung ermöglicht es, Vertrauen aufzubauen, welches sich im Analogen auswirkt. Der Entscheidungsfindungsprozess hat Gestalter:innen bekommen, dessen:deren Rolle im Zusammenhang mit dem Ausmaß des (Über-)Angebots an Produkten, Dienstleistungen, Informationen und Optionen bedeutend ist. Influencer:innen, die in sozialen Netzwerken mit ihren Follower:innen eine persönliche Verbindung und Vertrauen aufbauen, Orientierung geben, Produkte empfehlen und einflussreich bestimmte (Werbe-)Botschaften innerhalb ihrer Follower:innennetzwerke vermitteln: 53% der Befragten in Deutschland in der Altersgruppe 20-29 Jahre hatten 2018 ein sehr bzw. eher großes Vertrauen in die Produktinformationen von Influencern:Influencerinnnen, 44% der 16-19 Jahre alten Personen und 41% der 30-39 Jahre alten Personen gaben dies ebenfalls an. (vgl. „Umfrage zum Vertrauen in Produktinformationen von Influencern in Deutschland 2018“ auf Statista, URL: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/951052/umfrage/vertrauen-in-produktinformationen-von-influecern-in-deutschland/ [Abrufdatum: 03.02.2022]) 46% der 16-19 Jahre alten Befragten gaben an, dass sie in den letzten 12 Monaten ein Produkt gekauft oder eine Dienstleistung in Anspruch genommen haben, weil YouTuber:innen dafür geworben haben, 39% dieser Altersgruppe haben aufgrund einer Instagrammer:inempfehlung gekauft und 28% durch die Werbung eines:einer Bloggers:Bloggerin. Auch bei den 20-29 Jahre alten Befragten und in der Altersgruppe 30-39 Jahre liegen die Werte jeweils über 20% für eine Entscheidung zu einem Produktkauf oder der in Anspruchsnahme einer Dienstleistung aufgrund der Werbung von Personen auf You Tube, Blogs oder Instagram. (vgl. „Umfrage zum Einfluss von Influencern auf Kaufentscheidung nach Altersgruppen 2018“ auf Statista, URL: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/708566/umfrage/einfluss-von-influencern-auf-kaufentscheidung-nach-alter-in-deutschland/ [Abrufdatum: 03.02.2022]) Aus Sicht der sich zu entscheidenen Person ist es abhängig von der Art des Entscheidungsproblems bzw. der Entscheidungssituation, ob es Sinn ergibt, nach Hilfe im direkten persönlichen Netzwerk (digital und analog) zu fragen oder sich über dieses eine:n Adressat:in für ihr Anliegen bzw. eine spezifische Frage zu suchen. Für das erfolgreiche Nutzen eines Netzwerkes (im Entscheidungsfindungsprozess) kann man sein Netzwerk (das Netzwerk auf das man Zugriff hat) wie das menschliche bzw. eigene Gehirn verstehen. Die Informationen aus der Umwelt oder dem Körper gelangen über Nervenbahnen ins Gehirn. Hier werden sie bewertet und verarbeitet, als Reaktion werden entsprechende Signale vom Gehirn wieder ausgesendet, um Reize aus der Umwelt zu beantworten. Die eigentliche Grundlage unseres Verstandes beruht auf dessen Netzwerk. Im Gehirn kommunizieren 100 Milliarden Nervenzellen/Neuronen miteinander. Über mindestens 100 Billionen Synapsen (Knoten/Verknüpfungspunkte) miteinander verbundene Neuronen bilden neuronale Netze und ihre Gesamtheit das Nervensystem. Das Gehirn ist in verschiedene Bereiche aufgeteilt, diese lassen sich weiter in Bereiche mit unterschiedlichen Zuständigkeiten teilen. Die einzelnen neuronalen Netze, die sich in den konkreten Regionen des Gehirns befinden, dienen einer bestimmten Funktion bzw. erfüllen eine definierte Aufgabe (z.B. Wahrnehmung). Die psychologischen Funktionen des Menschen sind in hohem Maße voneinander abhängig und miteinander vernetzt. So hängen etwa Handlungen von Wahrnehmungen, Aufmerksamkeit und emotionalem Status in komplexer Weise voneinander ab. Die Funktionsweise des Gehirns beruht neben der funktionellen Segregation auf dem Prinzip der Vernetzung dieser Prozesse. Die Nervenzellen und neuronalen Netze sind anatomisch durch Nervenfasern miteinander verschaltet und bilden ein komplexes Netzwerk zwischen den verschiedenen Hirnarealen. So tauschen die Nervenzellverbände untereinander Informationen aus, sie kommunizieren bzw. interagieren und dieses Netzwerken bildet die Grundlage der kognitiven Funktionen des Menschen. Nach diesem Modell bzw. Muster ist auch das Netzwerk von Personen zu verstehen. Bei einer wichtigen Frage Informationen aus unterschiedlichen separaten Netzwerken zu sammeln, diese zu kombinieren und zum Evaluieren von alternativen Optionen (und Wahrscheinlichkeiten der Handlungskonsequenzen) zu nutzen, kann demnach eine Methode zum Treffen von Entscheidung sein. Die Struktur des Gehirns verändert sich (ein Leben lang), bestimmte Verbindungen zwischen den Nervenzellen und Hirnarealen werden je nach Tätigkeit bzw. Benutzung einer Person aktiver. Die Ausprägung der Faserbahnen zwischen den neuronalen Netzen stehen im Zusammenhang mit bestimmten besonderen Fähigkeiten (und auch Krankheiten). Diese wechselseitige Beziehung von Struktur und Funktion, der Prozess (Feedback-Mechanismus) der Veränderung des Gehirns bei Benutzung und das sich verändernde Handeln einer Person aufgrund des veränderten Gehirns, wird als Neuroplastizität oder neuronale Plastizität bezeichnet. So setzt man zum Beispiel beim Lernen neue Reize, die dazu führen, dass sich das neuronale Netz verändert, es bilden sich neue Verbindungen unter den Nervenzellen und es wird dichter und größer. (vgl. Johannes W. Rohen, Funktionelle Neuroanatomie, Lehrbuch und Atlas, S. 01-37, 6. Auflage, Stuttgart, 2001)

Lassen sich analog zu den unterschiedlichen Bereiche des Gehirns und ihrer funktionellen Trennung für das eigenen Netzwerk aus Personen unterschiedliche Bereiche (Knoten im Netzwerk) für unterschiedliche (Entscheidungs-)Themen ausmachen? Und lassen sich analog zum Austausch und den Verbindungen zwischen den Hirnregionen und ihren Funktionen auch im eigenen Netzwerk Strukturen, Wege, gute Verbindungen, starke Beziehungen erkennen? Die dann als Gestaltungsmuster bei zukünftigen Entscheidungsfragen und der damit verbundenen Informationsakquise helfen bzw. genutzt werden können? Kann man diese durch Netzwerkpflege sogar ausbauen? Wie lässt sich das Netzwerk zum Wissenstransfer (Austausch von Informationen, Insider:inneninformationen gewinnen, Wissen erweitern), zum Chancen entdecken (neue Möglichkeiten aufdecken, Inspiration und Ideen erhalten), zum Perspektivwechsel nutzen?  Ist es sinnvoll, im Zusammenhang mit Entscheidungen ein Netzwerk zu gestalten?

 

Einen Versuch ist es wert….

 

„Um herauszufinden, wie das Gehirn seine Leistungen vollbringt, ist es […] notwendig, die anatomischen Verbindungsmuster zu untersuchen, Modellvorstellungen für die Interaktion zwischen vernetzten Zellverbänden zu entwickeln und diese Modellvorstellungen mit Hilfe von Beobachtungen und Messungen zu überprüfen und zu konkretisieren.“ (Max-Planck-Institut, Thomas Reiner Knösche, a. a. O.) Um das Schaltschema des Gehirns bzw. den Verlauf der Nervenfasern zu ergründen, wird die Ausbreitung von bestimmten Substanzen (Tracern) entlang der Nervenfasern beobachtet oder der Verlauf von Nervenbahnen aus Serien von Polarisationslichtaufnahmen von Gewebeschnitten rekonstruiert. Diese Methoden lassen sich nur an totem Gewebe bzw. im Tierversuch anwenden. Bei lebenden Personen kann mit Hilfe der Magnetresonanztomographie die richtungsabhängige Diffusion von Wassermolekülen gemessen werden. Die thermische Bewegung von Teilchen wird im biologischen Gewebe durch Barrieren (Zellmembranen, Myelinscheiden) behindert, dadurch erlaubt eine solche Messung Rückschlüsse über die Orientierung der Nervenfasern in einem bestimmten Bereich. Mit einer mathematischen Modellierungstechnik, der „Traktographie“, lässt sich der Verlauf von Nervenbahnen rekonstruieren, die verschiedene Hirnareale miteinander verbinden. (vgl. Max-Planck-Institut, Thomas Reiner Knösche, a. a. O.)

 

Übersetzt für das Anliegen von eaoe bedeutet das:

 

Im Versuch werden Fragen abgeschickt, ihre Wege verfolgt und die Reaktionen evaluiert. Jedes Thema hat seine eigene Frage, für jede Person bleibt anderes unklar. In diesem Versuch bilden die Fragen der Autorin und ihr Netzwerk den Ausgangspunkt. Aus jedem Thema (siehe-> 01-66) resultiert eine Frage und ein:eine Adressat:in. Alle Adressaten:Adressatinnen bekommen alle Fragen und dürfen sich entscheiden, welche sie beantworten. Plus: Sie sollen hinter einer Frage notieren, wen sie fragen würden. Der:die Adressat:in kann selbst eine Antwort haben oder bzw. und diese in seinem:ihren Netzwerk suchen & finden. Die Fragen sollen beantwortet werden, sich weiterleiten, um von Adressaten:Adressatinnen beantwortet zu werden, zu denen es keinen persönlichen Kontakt gibt, die eaoe sogar unbekannt sind. Im besten Fall kommt es also zu einer Antwort des:der Adressaten:Adressatin an eaoe und im allerbesten Fall setzen die Adressaten:Adressatinnen ihre:n Netzwerk-Adressat:in in CC (carbon copy/Durchschrift) oder BCC (blind carbon copy/Blindkopie).

Es handelt sich bei den Fragen nicht (nur) um direkte Entscheidungsfragen. Alle Fragen sind im Zusammenhang mit der Forschung zum Thema Entscheidung & Gestaltung entstanden und sollen nun wiederum in die Gestaltung von Entscheidungen einfließen. Die Idee ist es, ein Netzwerk für Entscheidungen zu gestalten bzw. die Gestaltung eines Netzwerkes für Entscheidungen zu finden.

Welches Netzwerk gestaltet sich, wenn es eine Kontaktperson aber keine:n klare:n Zieladressat:in gibt? Wie steht es um die Antwortbereitschaft bzw. Hilfe, wenn die Kontaktperson keine persönliche Verbindung zur absendenden Person hat? Gibt sie Antworten? Vermittelt sie weiter? Welche (Art von) Verbindungen funktionieren? Lässt sich ein Muster für Netzwerkanfragen erkennen, eine Carbon copy (Durchschlag), eine Blaupause für die Antwortsuche im (eigenen) Netzwerk? Vieles ist nur eine Entscheidung der Sichtweise, was passiert, wenn die Frage in eine neue Kontextualisierung gerät? Jede:r findet andere Antworten.

 

 „Wie die Fäden eines Gewebes zu einem Bilde gewirkt werden, so wird das Selbst - als der Gottheit lebendiges Kleid - gewirkt aus den vielen, an sich vielleicht geringfügigen Entscheidungen, zu denen wir uns im Verlauf unseres Lebens veranlaßt sehen. Solche Anlässe bieten sich auf jeder Lebens- und Intelligenzstufe und in jedem Milieu; es kommt allein auf unsere Antwort an, ob sie zur Offenbarung des Selbst führen oder nicht“ (Emma Jung und Marie-Louise von Franz, Die Graalslegende in psychologischer Sicht, S. 141, Olten, 1983).

 

Die Anfrage erfolgt per Mail:

 

Betreff: Frage nach Antwort

 

Liebe:r XYZ,

 

alle haben Fragen, jede:r findet andere Antworten.

Im Rahmen meiner Masterarbeit in Design an der Hochschule für bildenden Künste Hamburg forsche ich zum Thema Entscheidung & Gestaltung.

Teil der Arbeit ist ein Versuch, in diesem Versuch sende ich 9 Fragen, die sich im Zusammenhang mit der Arbeit ergeben haben, an 9 Personen, die ich gerne um Antwort fragen würde.

Jede Frage hat eine:n Adressat:in, aber alle 9 Personen bekommen alle 9 Fragen und sollen selbst entscheiden, ob und auf welche Frage(n) sie antworten. Plus: Sie sollten hinter einer Frage notieren, wen sie fragen würden, wer ihr:e Netzwerk-Adressat:in wäre. Im besten Fall kommt es zu einer Antwort an mich als Absenderin und im allerbesten Fall, ist in carbon copy oder blind carbon copy bereits der oder die nächste Adressat:in.

Vielleicht kommt es zu einer direkten Antwort an mich als Absenderin, vielleicht kann die Antwort aber auch im Netzwerk des:der Adressaten:Adressatin gesucht & gefunden werden, vielleicht passiert auch nichts oder etwas anderes. Die Fragen sollen Antworten finden, beantwortet werden, sich weiterleiten, um von Adressaten:Adressatinnen beantwortet zu werden, zu denen es keinen persönlichen Kontakt gibt, die eaoe sogar unbekannt sind. Im besten Fall kommt es also zu einer Antwort des:der Adressaten:Adressatin an eaoe und im allerbesten Fall setzen die Adressaten:Adressatinnen ihre:n Netzwerk-Adressat:in in CC (carbon copy/Durchschrift) oder BCC (blind carbon copy/Blindkopie). 

 

Alle Fragen sind im Zusammenhang mit der Forschung zum Thema Entscheidung & Gestaltung entstanden und sollen nun wiederum in die Gestaltung von Entscheidungen einfließen. Ich bin auf der Suche nach einem Muster zur Gestaltung eines Netzwerkes für Entscheidungen und nach Antworten als universelle Grundprinzipien für gute Entscheidungen. (siehe-> https://www.eaoe.de/e-g-2/)

 

 

Liebe Grüße und vielen Dank

 

 

Lea Luisa Maria Böttcher / eaoe

 

 

 

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Improvisation / Prokrastination / Intuition / Intellekt / Schicksal

 


Improvisation ist etwas „ohne Vorbereitung aus dem Stegreif Dargebotenes“ und improvisieren „etwas ohne Vorbereitung, aus dem Stegreif tun.“
(„Improvisation“ in Duden online, URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Improvisation [Abrufdatum: 09.01.2022]), („improvisieren“ in Duden online, URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/improvisieren [Abrufdatum: 09.01.2022]) Improvisieren ist also das Handeln und Improvisation das Produkt oder Ergebnis dieses Handelns. Prokrastinieren und Entscheidungen aufschieben und dann improvisieren also eine Methode, um Entscheidungen zu gestalten? Die Improvisation kann sich in diesem Falle auf die Entscheidungssituation selbst (also die Entscheidung) oder aber auf die Situation beziehen, die sich gestaltet, wenn die Entscheidung im Falle des Aufschiebens von extern getroffen wurde. These: Wer gut improvisieren kann, ist auf alles vorbereitet. Meint Improvisation, schnelle Entscheidungen treffen zu können?
In diesem Zusammenhang scheint die Intuition eine entscheidende Rolle zu spielen. Die Intuition als „das unmittelbare, nicht diskursive, nicht auf Reflexion beruhende Erkennen, Erfassen eines Sachverhalts oder eines komplizierten Vorgangs.“
(„Intuition“ in Duden online, URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Intuition [Abrufdatum: 09.01.2022]) Kann, wer sich seinem Unbewussten bewusst ist, gut improvisieren? „Intuition, von lat. intueri, ,anschauen, betrachten‘, bezeichnet schon seit dem Altertum die geistige Schau und Eingebung, das unmittelbare, ganzheitliche Erkennen oder Erfahren von Sachverhalten im Gegensatz zu der durch Beweis und Definition vermittelten diskursiven Erkenntnis. Psychologisch betrachtet meint Intuition das spontane Erfassen von Wirklichkeitszusammenhängen.“ (Michael Bäumer, Intuition, in: Christoph Auffarth, Jutta Bernard Hubert Mohr, Metzler Lexikon Religion, Gegenwart - Alltag - Medien, S. 104, Stuttgart, Weimar, 1999)
Sind intuitive Entscheidungen Bauchentscheidungen bzw. Entscheidungen nach Gefühl? Beruhen sie nicht auch auf (persönlichen) Erfahrungswerten, die durch ihre unbewusste Einflussnahme zwar dazu führen, dass man gefühlt mühelos, automatisch die Entscheidungen getroffen hat und nicht unter dem Einsatz des Denkens, eigentlich aber sehr wohl die Entscheidung unbewusst überdacht hat?

Ja, sagt Gerd Gigerenzer vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, er setzt die Intuition dem Bauchgefühl gleich und definiert: „Eine Intuition oder ein Bauchgefühl ist ein Urteil, 1. Das unvermittelt im Bewusstsein auftaucht, 2. Dessen tiefere Gründe uns nicht ganz bewusst sind, 3. Das stark genug ist, um danach zu handeln.“ Aber: „Ein Bauchgefühl ist weder eine Laune noch ein sechster Sinn, weder Hellseherei noch Gottes Stimme. Es ist eine Form unbewusster Intelligenz. Die Annahme, Intelligenz sei notwendigerweise bewusst und überlegt, ist ein Riesenirrtum. Die meisten Regionen unseres Gehirns sind unbewusst, und wir wären wohl verloren ohne den dort gespeicherten immensen Bestand an Erfahrung.“
(Gerd Gigerenzer, Risiko – Wie man die richtigen Entscheidungen trifft, S. 30 ff., München, 2013) „Gigerenzer vertritt die Position, dass intuitive Entscheidungen auf Heuristiken basieren. Heuristik bedeutet alt-griechisch ‚ich finde‘ und genau darum geht es, eine rasche Entscheidung anhand von einer Art Faustregel zu finden. Diese Faustregel ergibt sich nur aufgrund weniger Informationen, ein großer Teil der vorhandenen Informationen werden ausgeklammert, um zu besseren Urteilen zu kommen. Man stützt sich nur auf die zuverlässigste Information und alles andere ignoriert man.“ (Martina Kahl-Scholz, Mensch! Erstaunliches über den Körper, S. 190, Berlin, 2018) Faustregeln können eine Methode der Entscheidungsfindung sein, die in einer Welt, die sich ungewiss gestaltet, nicht zu unterschätzen ist: „Mehr Information ist immer besser. Mehr Rechnen ist immer besser. Derartige Ratschläge erscheinen so offensichtlich, dass sie nur wahr sein können. Wie wir sehen werden, ist diese Annahme ein großer Fehler. In einer ungewissen Welt sind komplexe Methoden der Entscheidungsfindung, die auf mehr Informationen und Berechnungen setzen, häufig schlechter und können Schaden anrichten, weil sie die ungerechtfertigte Hoffnung auf Gewissheit wecken. Diese Erkenntnis hat sich noch nicht durchgesetzt. Viele Experten und das breite Publikum hängen gleichermaßen der Überzeugung an, dass mehr stets besser sei. Wer wird denn auch mehr Informationen und raffinierte Berechnungen ablehnen, wenn er sie umsonst haben kann? Es heißt, Faustregeln würden bei der Faktensuche Zeit und Mühe sparen, jedoch auf Kosten der Genauigkeit – eine These, die als ‚Genauigkeit-Aufwand-Konflikt‘ (accuracy-effort trade-off) bezeichnet wird. Bei Entscheidungsfindung, so das Argument weiter, seien Faustregeln immer die zweitbeste Möglichkeit. Doch das gilt nur in einer Welt bekannter Risiken, nicht in einer ungewissen Welt. Um gute Entscheidungen in einer ungewissen Welt zu treffen, müssen wir einen Teil der Informationen außer Acht lassen, und genau das geschieht bei der Anwendung von Faustregeln. Dadurch lassen sich Zeit und Mühe sparen und bessere Entscheidungen treffen.“ (Gerd Gigerenzer, Risiko – Wie man die richtigen Entscheidungen trifft, a. a. O.) Intuition kann also als unbewusste Form der Informationsverarbeitung gesehen werden, das Bauchgefühl eine Form oder Produkt des unbewussten Denkens sein und Faustregeln die Grundlage, um intuitiv („gute“ bzw. „bessere“) Entscheidungen zu treffen. „Intuitiv zu handeln setzt voraus, dass wir die Stimme unserer Intuition wahrnehmen. […] Hier ist es sinnreich, immer wieder darauf zu achten: Wie fühle ich mich mit der Entscheidung? Was sagt mein Bauch? Ist ihm schlecht, ist er verkrampft? Was sagt mein Herz? Schlägt es schneller? Wie fühlt sich mein Nacken an? Verspannt? Sind die Schultern in Lauerstellung hochgezogen? Meine Hände? Sind sie entspannt oder schweißnass und zur Faust geballt?“ (Martina Kahl-Scholz, a. a. O., S. 192)
Körperliche Zeichen sind also Teil unserer Intuition und können Hinweise für Entscheidungen geben. Dank der Intuition lassen sich Vorhersagen über die Zukunft treffen, unbewusst werden hierzu bereits gemachte Erfahrungen aus vergleichbaren Situationen der Vergangenheit herangezogen. Der Dank gilt auch dem Intellekt, denn mit ihm verbunden ist die Fähigkeit, aus vorhandenem Wissen bewusst Rückschlüsse zu ziehen, Erkenntnisse zu gewinnen und damit die Zukunft vorherzusagen. Der Intellekt ist die bzw. das „Fähigkeit, Vermögen, unter Einsatz des Denkens Erkenntnisse, Einsichten zu gewinnen.“
(„Intellekt“ in Duden online, URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Intellekt [Abrufdatum: 17.02.2022])
Intellekt und Intelligenz stehen in der Persönlichkeitspsychologie in direkter Verbindung. Im „Big-Five-Ansatz“, welcher der Persönlichkeitserfassung dient, werden Menschen anhand ihrer Grundmerkmale in fünf Grundfaktoren eingeteilt, die jeweils in unterschiedlicher Ausprägung vorliegen können (und meist in einer fünfstufigen Skala angegeben werden). Der Test versucht mit 240 Items die grundlegenden Persönlichkeitsmerkmale des Menschen zu erfassen und diese den Grundfaktoren „Gewissenhaftigkeit (Conscientiousness)“, „Extraversion (Extraversion)“, „Verträglichkeit (Agreeableness)“, „Neurotizismus (Neuroticism)“ und „Offenheit/Intellekt (Openness)“ zuzuteilen.
(vgl. G. Roth, N. Strüber, Wie erfasst man die Persönlichkeit eines Menschen? in: Gerhard Roth (Hrsg.), Andreas Heinz (Hrsg.), Henrik Walter (Hrsg.), Psychoneurowissenschaften, S. 163-164, Berlin, 2020) Der Faktor Offenheit/Intellekt „bezeichnet in starker Ausprägung die Eigenschaften breit interessiert, einfallsreich, phantasievoll, intelligent, originell, wissbegierig, intellektuell, künstlerisch, gescheit, erfinderisch, geistreich und weise und in schwacher Ausprägung die Eigenschaften gewöhnlich, einseitig interessiert, einfach, ohne Tiefgang und unintelligent.“ (G. Roth, N. Strüber, Wie erfasst man die Persönlichkeit eines Menschen? a. a. O., S. 164) Intelligenz ist demnach eine Persönlichkeitseigenschaft, die im Grundfaktor Offenheit/Intellekt enthalten ist bzw. diesen bedingt. „Das Wort Intelligenz kommt aus dem lateinischen und heißt übersetzt verstehen oder wortwörtlich zwischen etwas wählen. Intelligente Menschen können sich also gut in neuen Situationen zurechtfinden und zwischen mehreren Möglichkeiten die beste Lösung für ein Problem auswählen.“ (Kakadu Kinderhörspiel, Mehr als Mathe – Was ist Intelligenz? Deutschlandfunk Kultur, 11.01.2022, URL: https://www.kakadu.de/was-ist-intelligenz-100.html [Abrufdatum: 17.03.2022]) Intelligente Menschen sind also gute Entscheider:innen. Sind ihre Entscheidungen auch gut bzw. besser? Dürfen, können, sollten intelligente Menschen mehr prokrastinieren?
Jenseits von Intuition, Intellekt und Intelligenz steht das Schicksal als etwas „von einer höheren Macht über jemanden Verhängtes, ohne sichtliches menschliches Zutun sich Ereignendes, was jemandes Leben entscheidend bestimmt.“
(„Schicksal“ in Duden online, URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Schicksal [Abrufdatum: 12.01.2022])  In der Mythologie und einigen Religionen wird diese Macht personifiziert, Schicksalsgottheiten wie Laima, Fortuna und Tyche (siehe-> 11), Moiren, Parzen, Nornen, Namtaru, Gott und weitere treffen Entscheidungen bzw. haben Entscheidungen getroffen, die das individuelle Leben der Menschen aber auch den Weltlauf gestalten. Wenn wir anerkennen oder glauben, dass es etwas gibt, das sich nicht in unserer menschlichen bzw. der weltlichen Entscheidungsmacht befindet, entspannt oder belastet das? Das Schicksal ist verbunden mit Hoffnung und/oder Angst. Unsere Existenz, die Welt, in der wir existieren, Raum und Zeit sind vorgegeben, dafür haben wir uns nicht entschieden. Ist das unser Schicksal? Ist es eine Methode, Entscheidung & Gestaltung dem Schicksal zu überlassen? Unser Handeln, Entscheidungen und Lebensgestaltung in der Welt haben in vielen Religionen Einfluss auf das Schicksal, welches uns bzw. denen, die daran glauben, widerfährt. „Bleibe fromm und halte dich recht; denn solchem wird's zuletzt wohl gehen.“ (Psalm 37:37 Lutherbibel 1912) Bestimmt also ein Leben, das „vom Glauben an Gott geprägt; gläubig, religiös“ ist („fromm“ in Duden online, URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/fromm [Abrufdatum: 12.02.2022]) und das Befolgen von Regeln und Geboten unser Schicksal? Stimmt es dann überhaupt, dass die göttliche Vorsehung (z. B. im Christentum) mit dem Schicksal zu vergleichen ist?
Gott, Vater unser im Himmel. Himmel. Sterne. Sterne am Himmel. Sternenformationen. Gestaltung am Himmel. Horoskop. Vorhersagen der Zukunft. Wahrsagung. Gestaltung der Linien in der Hand. Kaffeesatz gestaltet sich in der Tasse. Zeichen des Schicksals. Die Gestalt einer Person (eines:einer Propheten:Prophetin), „die sich von ihrem Gott berufen fühlt und für sich in Anspruch nimmt, als Mahner und Weissager die göttliche Wahrheit zu verkünden.“
(„Prophet“ in Duden online, URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Prophet [Abrufdatum: 19.03.2022]) Gestalt(ung), die Einfluss auf Entscheidungen hat.
Chiromantie, Kaffeesatzleserei, Astrologie, Kartomantie (Wahrsagen mit Spielkarten), Prophetie. „Das Bedürfnis, angesichts der Erfahrung einer unsicheren Zukunft im Hier und Jetzt Informationen über künftige Entwicklung zu erlangen, ist letztlich ubiquitär. Hinter der Wahrsagerei als Phänomen steht das zeitlose Problem, Kontingenz auszuhalten, denn Kontingenz ist eine Herausforderung, die sich stets aufs Neue stellt und gerade im Fall existenzieller Fragen übermächtig werden kann.“
(Ulrike Ludwig, Wandelbare Dauerbrenner. Wahrsagen in Europa, S. 61, in: (Marie-Therese Feist (Hrsg.), Michael Lackner (Hrsg.), Ulrike Ludwig (Hrsg.), Zeichen der Zukunft - Wahrsagen in Ostasien und Europa / Signs of the Future - Divination in East Asia and Europe, Heidelberg, 2021, URL: https://doi.org/10.11588/arthistoricum.763 [Abrufdatum: 18.03.2022]) „Waren die antiken Gesellschaften noch von einer ausgesprochen vielfältigen Kultur der Wahrsagung geprägt, die zudem eng mit religiösen Praktiken verbunden waren, führte die endgültige Etablierung des Christentums in der Spätantike zu einem Auseinandertreten von Religion und Formen der Wahrsagung. […] Wahrsagerei war in dieser Deutung Teil des antiken Heidentums, das im Christentum keinen Platz mehr haben sollte. Die Haltung der Kirche(n) und ihrer Vertreter gegenüber der Wahrsagerei war dabei von Anfang an ambivalent. Denn einerseits wies man die Idee des Schicksals zurück, die dem Konzept der individuellen Freiheit entgegenstand. Andererseits war diese Ablehnung aber damit zu versöhnen, dass zumindest für Gott die Zukunft bereits existierte. […] Einen Ausweg bot hier die Tradition der jüdisch-christlichen Prophetie, die für viele zur einzig zulässigen prognostischen Ausnahme in der allgemeinen Verdammung der Wahrsagerei wurde. […] Doch letztlich bot die Denkfigur des göttlichen Vorwissens auch Spielraum, um über Umwege doch noch der Möglichkeit und Zulässigkeit der Wahrsagung das Wort zu reden und dies auch jenseits der Prophetie. So ließ sich etwa argumentieren, dass Gott jenseits prophetischer Verkündungen Zeichen, genauer Vor-Zeichen gebe, etwa in Form von Erdbeben und Kometen. Denn weshalb sollte Gott diese sonst sinnlosen Phänomene zulassen, wenn er damit nicht auf Künftiges oder auch anders Verborgenes hinweisen würde. Wahrsagerei war aus dieser Perspektive nicht notwendigerweise Aberglauben, im Sinne eines falschen Glaubens. Zutreffende Vorhersagen waren durchaus möglich und zwar immer dann, wenn Gott dies zuließ. Beispiele hierfür ließen sich, wie etwa im Fall des Sterns von Betlehem, sogar in der Bibel finden.“ (Ulrike Ludwig, a. a. O., S. 63-64)
„An der Wende zur Moderne – um 1800 – ist schließlich ein dritter, durchaus doppelgesichtiger Wandlungsprozess zu beobachten: Mit der Aufklärung wurde im europäischen Kontext erstmals auf breiter Front die prinzipielle Möglichkeit wahrsagerischer Vorhersage bestritten. In der Folge änderte sich die öffentliche Meinung zur Wahrsagerei grundlegend. Die Wahrsagerei wurde von einer (mehr oder weniger) verbotenen, aber breit praktizierten und generell für möglich gehaltenen Kunst zu einem Irrglauben, einer Täuschung, die kein ‚vernünftig‘ denkender Mensch wirklich für möglich halten könne. […] Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen und vor allem der aufklärerischen Mobilmachung gegen die verschiedenen Formen von Wahrsagerei und Magie setzte ein neuer gesellschaftlicher Umgang mit dem Transzendenten ein. Die zunehmende Delegitimierung der Wahrsagerei in der Öffentlichkeit und der Aufstieg neuer Prognosetechniken führten aber keineswegs dazu, dass die Wahrsagerei als Phänomen im Laufe des 18. Jahrhunderts oder danach verschwand. Vielmehr etablierte die Aufklärung mit ihrer Pädagogisierung von Bildung, der weiteren Entlatinisierung von Bildungsgut, der Ausweitung des publizistischen Marktes und der zunehmenden Zurückdrängung kirchlicher Autoritäten Freiräume, die ironischerweise einer neuerlichen Welle der Rezeption und Anwendung hermetischer Künste den Weg bereiteten. Als Kehrseite der Aufklärung lässt sich daher eine nochmalige Ausweitung und noch leichtere Zugänglichkeit zu wahrsagerischen Expertisen feststellen.“
(Ulrike Ludwig, a. a. O., S. 66)
„Sicherlich genießt die Wahrsagerei keine allgemeine Wertschätzung mehr, sie gilt als irrationales Gegenüber wissenschaftlicher Erkenntnis und wenig geschätzte Schwester prognostischer Modellierungen, die inzwischen vornehmlich gestützt auf Big Data Berechnungen künftiger Szenarien oder doch von plausiblen Möglichkeiten zu liefern versprechen. Aber Wahrsagerei ist, zumindest als Subkultur, ein selbstverständlicher Teil unserer Gegenwartsgesellschaft.“
(Ulrike Ludwig, a. a. O., S. 61) „Es geht letztlich um das menschliche Bedürfnis, den Zufall und das Ungewisse zu bändigen. Und dies sowohl in Fällen, in denen man sich einer Entwicklung gegenübersieht, auf die man keinen Einfluss hat, wenn etwa eine Katastrophe droht, als auch in Fällen, in denen man selbst aktiv entscheiden muss, in denen man etwas riskiert. Gerade solche Entscheidungsprozesse werden schnell zur Zumutung, gilt es doch im Hier und Jetzt eine von mehreren Optionen auszuwählen und dies gerade ohne zu wissen, ob sich die eigene Wahl perspektivisch auch als richtig erweisen wird.“ (Ulrike Ludwig, a. a. O., S. 62)


Sind wir (bzw. einige von uns) dauerhaft und weiterhin auf der Suche nach Zeichen, die uns Entscheidungen abnehmen oder zumindest erleichtern? Suchen wir vielleicht sogar vermehrt und intensiver aufgrund der Entscheidungsfreiheit oder Entscheidungspflicht, die wir einhergehend mit der zunehmenden Unsicherheit des Weltgeschehens und Machtlosigkeit gegenüber diesem empfinden? Hoffen wir durch die prinzipielle Offenheit und Ungewissheit unserer Lebenserfahrungen (Kontingenz) auf Zeichen? Wünschen wir uns für unser Leben (mehr) Gestaltgebung von außen? Und schließt sich hier, bei dem Bedürfnis nach „Zeichen“ und „Gestaltgebung“, der Kreis zum Design, bzw. öffnet er sich hier? Design in seiner Wortbedeutung als „formgerechte und funktionale Gestaltgebung“, als „Entwurf[szeichnung]“ für unsere Entscheidungen im Leben in dieser Welt?
(vgl. „Design“ in Duden online, URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Design [Abrufdatum: 20.03.2022]) Gestaltung als Vision für Entscheidungen und Designer:innen als Propheten:Prophetinnen?!
 

->Tipp: Katalog zur Ausstellung „Zeichen der Zukunft. Wahrsagen in Ostasien und Europa“ im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg, 2021, URL: https://books.ub.uni-heidelberg.de/arthistoricum/reader/download/763/763-17-92140-1-10-20210120.pdf

->Frage: Was ist die größte Hoffnung?

 

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Spaziergang

 

Ein Spaziergang ist relativ zweckfrei, es geht dabei nicht darum, einen Weg zu erledigen, der Spaziergang genügt sich aus sich selbst heraus, man geht der Muße, der Freude am Gehen wegen. (vgl. Bertram Weisshaar, in: Vom Gehen und Denken – Der Spaziergangsforscher Bertram Weisshaar, SWR2 Tandem, 2021, URL: https://www.ardaudiothek.de/episode/tandem/vom-gehen-und-denken-der-spaziergangsforscher-bertram-weisshaar/swr2/85829920/ [Abrufdatum: 13.02.2022])

Dass das Spazierengehen nicht ganz so harmlos aber für alle ein Recht in einem demokratischen Staat ist, wurde in der Pandemie deutlich. Neben dem Lebensmitteleinkauf, der Arbeit und dem Arztbesuch:Ärztinbesuch war es den Bürgern und Bürgerinnen im Lockdown erlaubt, einen Spaziergang zu machen. Gegner der Corona-Maßnahmen, Impfgegner und Querdenker gehen aus Protest „spazieren“, dies betont zwar die Relevanz des Themas, aber mit reflexiven Spaziergängen, wie im Folgenden, hat dieses nichts zu tun.

Die Spaziergangswissenschaft bzw. Promenadologie (englisch Strollology) nutzt das Gehen bzw. den Spaziergang als Methode bzw. Instrument, um zu Erkenntnissen zu kommen. Es geht um die tatsächliche Erschließung der Umwelt und das Verstehen der Umgebung mittels des Spazierengehens und ebenfalls um das Bewusstmachen der Bedingungen dieser Wahrnehmung der Umwelt. Entwickelt wurde diese Methode von Lucius Burckhardt, der unter anderem von 1972 bis 1997 an der ersten Reformuniversität Deutschlands, der Gesamthochschule Kassel (seit 2003 Universität Kassel), im Fachbereich Architektur, Stadtplanung und Landschaftsplanung forschte und lehrte. Zusammen mit seiner Frau Annemarie Burckhardt-Wackernagel hat er hier die Promenadologie entwickelt. Nach der Spaziergangswissenschaft beruht Wahrnehmung von Landschaft auf dem kinematographischen Effekt des Spazierengehens. Landschaft entsteht erst im Kopf, sie ist ein Konstrukt aus den Sequenzen, in welchen der bzw. die Betrachter:in wahrnimmt und abspeichert. Die Umwelt ist demnach nur wahrnehmbar auf Grund von Bildvorstellungen, die sich im Kopf des Beobachters bzw. der Beobachterin bilden und schon gebildet haben. Zur Identifizierung eines Ortes als Landschaft hat sich jede:r Wahrnehmungsfilter angeeignet. Nach Lucius Burckhardt sieht jede:r nur das, was er bzw. sie zu sehen gelernt hat. (vgl. Martin Schmitz, Die Spaziergangswissenschaft von Lucius Burckhardt, in: Ausdruck und Gebrauch, Dresdner wissenschaftliche Halbjahreshefte für Architektur, Wohnen, Umwelt, 8. Heft, 2. Halbjahr, Achim Hahn (Hrsg.), S. 63-69, Dresden, 2007) In ihrer Arbeit als Spaziergangswissenschaftler:innen haben Lucius Burckhardt und seine Frau (geführte) Spaziergänge im öffentlichen Raum gestaltet, die den bzw. die Teilnehmer:in dazu auffordert, sich der Art seiner bzw. ihrer filternden Wahrnehmung bewusst zu werden und das Sehen neu zu lernen. Als Anregung zur Wahrnehmung und ästhetischen Aneignung wurden künstlerische Interventionen im Stadtraum durchgeführt. Es ging ihnen darum, unsere Sinne für das ganzheitliche Begreifen der Umwelt, von Stadt und Landschaft, zu sensibilisieren. Im Zusammenhang mit Entscheidung und Gestaltung im Planen und Bauen (Architektur-, Stadt- und Landesplanung) fordert Lucius Burckhardt ebenfalls das zusammenhängende Wahrnehmen und meint die gemeinsame Interpretation der Umwelt durch Wissenschaft und Praxis. „Der Spezialist als Fachmann braucht immer wieder neue Fachleute, um die Folgen seiner Eingriffe zu beheben. Ein Architekt, Gestalter und Planer, der diesen Gedanken folgt, erkennt, dass er vor weitaus komplexeren Aufgaben steht als angenommen. Daneben rückt der Laie, der Stadtbewohner in das Zentrum der Planungstheorie von Lucius Burckhardt. Die Bürgerbeteiligung und partizipative Architektur sind für ihn elementarer Bestandteil der Planungspraxis.“ (Martin Schmitz, Von der Urbanismuskritik zur Spaziergangswissenschaft, URL: https://www.lucius-burckhardt.org/Deutsch/Biografie/Lucius_Burckhardt.html [Abrufdatum: 18.02.2022]) Bereits 1953 brachte Burckhardt zusammen mit seinem Kommilitonen Markus Kutter in der Publikation „Wir selber bauen unsre Stadt“ (Markus Kutter, Lucius Burckhardt, Vorwort von Max Frisch, Wir selber bauen unsre Stadt, Ein Hinweis auf die Möglichkeiten staatlicher Baupolitik, Berlin, 2015) eine kritische Haltung gegenüber der herkömmlichen Stadtplanung und die Idee, eine neue Stadt zu bauen, heraus. 1955 lösten sie dann gemeinsam mit Max Frisch eine öffentliche Planungsdiskussion aus, eine Debatte um die Perspektiven in Stadt- und Raumplanung, die auch heute noch aktuell ist (die Texte von Burckhardt, Kutter und Frisch sind im Nachdruck ihrer damaligen Veröffentlichung "achtung: die Schweiz" als "Der Urtext von Lucius Burckhardt über die Idee einer neuen Stadt, Die Geschichte eines Buches von Lucius Burckhardt, Max Frisch & Markus Kutter" 2019 im Verlag Martin Schmitz, Berlin erschienen). Lucius Burckhardt, Markus Kutter und Max Frisch hinterfragen darin die am Anfang der 1950er Jahre gängigen Instrumente der Stadtplanung, denken darüber nach, wie unter den neuen Bedingungen des Individualverkehrs eine neue Stadt aussehen sollte, und warnen vor der einsetzenden Zersiedlung von Stadt- und Landschaftsräumen. Sie formulieren die Forderung nach verdichteten Siedlungen und kontrolliertem urbanen Wachstum. Der urbanistische Entscheidungsprozess muss nach ihrer Meinung als eine Interaktion zwischen Fachleuten, Entscheidungsberechtigten und Stadtbewohner:innen gehandhabt werden. Nur so ließe sich sicherstellen, dass auch Unsichtbares nicht übersehen wird.

Das unsichtbare Design ist ein weiteres Thema in Burckhardts Forschung. „Design ist unsichtbar“, es darf in der Entscheidung und Gestaltung nicht nur um die äußere Form gehen, sondern es müssen genauso die unsichtbaren Komponenten berücksichtigt werden. Dass Design unsichtbar ist, klingt zunächst paradox, „denn man kann die Dinge, denen sich Gestaltung widmet, ja sehen. Den Wohnungssuchenden in einer Stadt interessiert aber nicht nur die äußere Form der Architektur, sondern genauso unsichtbare Komponenten wie Mietpreis und Hausordnung. Lucius Burckhardt vertrat die Auffassung, das beste Design einer Straßenbahn sei, wenn sie auch nachts führe.“ (vgl. Martin Schmitz, a. a. O. S. 63-69) Hinter den sichtbaren Objekten existiert eine unsichtbare soziale Dimension, die auch mitgestaltet werden muss. Die Zusammenhänge, in denen ein zu gestaltender Gegenstand steht, dürfen nicht ausgeklammert werden. Diese nicht sichtbaren Aspekte des Designs müssen wahrgenommen und verstanden werden, damit sie in der Gestaltung berücksichtigt werden, denn sie bilden die Ausgangssituationen und Zusammenhänge der Gesellschaft. Burckhardt betont den Bezug von Gestaltung zur Gesellschaft und die damit einhergehende Verantwortung für Gestalter:innen. Sie müssen diese Zusammenhänge beobachten und erforschen, dann hat ihre Arbeit das Potential, die Probleme (gesellschaftlich-sozialer Systeme) zu lösen oder zumindest Lösungswege zu gestalten. Seiner Ansicht nach, wird gute Gestaltung durch positive Erfahrungen für den bzw. die Nutzer:in spürbar, Design kann in der richtigen Anwendung die Lebensqualität unserer Gesellschaft erhöhen. (vgl. Lucius Burckhardt, Design ist unsichtbar, in: Lucius Burckhardt, Wer plant die Planung? Architektur, Politik und Mensch, Jesko Fezer (Hrsg.), Martin Schmitz (Hrsg.), Berlin, 2004) (siehe-> 03) Aber er stellt auch klar: „Der Glaube, daß durch Gestaltung eine humane Umwelt hergestellt werden könne, ist einer der fundamentalen Irrtümer der Pioniere der modernen Bewegung. Die Umwelten der Menschen sind nur zu einem geringen Teil sichtbar und Gegenstand formaler Gestaltung; zu weit größerem Teil aber bestehen sie aus organisatorischen und institutionellen Faktoren. Diese zu verändern ist eine politische Aufgabe.“ (Lucius Burckhardt, Design heisst Entwurf, Studienhefte Problemorientiertes Design Nr.3, Hrsg. von Jesko Fezer (Hrsg.), Oliver Gemballa (Hrsg.), Matthias Görlich (Hrsg.), Hamburg, 2012)

Sowohl für die Politik als auch für das Gestalten außerhalb dieser benennt Burckhardt als eines der Hauptprobleme „[…] die fehlende Beteiligung der Menschen an der Gestaltung ihrer Umwelt. Diese Beteiligung gilt es, von planerischer Seite zuzulassen und zu moderieren. Aber da sie ein ungewohntes Angebot darstellt, muss sie auch den meisten Bürgern und Bewohnern von Lebensraum erst einmal vermittelt werden. Daran hat Lucius Burckhardt sein ganzes Leben lang gearbeitet und Methoden entwickelt – wie etwa die Spaziergangswissenschaft […].“ (Hans Höger, Ausweitung der Perspektiven, in: Form – Zeitschrift für Gestaltung, Frankfurt am Main, 2005) „Hinschauen - das tun wir oft schon gar nicht mehr. Stadtplanung, Verkehrsplanung, Soziologie - sind es nicht Schreibtischwissenschaften? Die Spaziergangswissenschaft sucht den Ort und das Lebendige auf, versucht sich darin, das Betrachten wiederzuentdecken. Betrachten heißt, neue Blickwinkel erschließen, Sehweisen ausprobieren, ungewohntes wahrnehmen, störende Elemente aufdecken, Fehler machen und bei sich selbst bemerken. Spaziergangswissenschaft will ein anderes Verständnis von Zeit und Raum gewinnen. Spazierengehende Menschen sind schon durch den Gebrauch ihrer Füße langsamer - und da sie gehen, weil sie dazu Lust haben, und nicht, um anzukommen, sind sie zeitlich unberechenbar. Raum sieht die Spaziergangswissenschaft als Konstrukt der Wahrnehmung - also als vieldeutig.“ (Kulturbeutel, Organ der Spaziergangswissenschaft, Gesamthochschule Kassel, Fachbereich Stadtplanung/Landschaftsplanung, Seminar Wahrnehmung & Verkehr, Kassel, 1993, zitiert von Martin Schmitz in: Achim Hahn (Hrsg.), Ausdruck und Gebrauch, Dresdner wissenschaftliche Halbjahreshefte für Architektur, Wohnen, Umwelt, Dresden, 2007, URL: https://www.lucius-burckhardt.org/Deutsch/Biografie/Lucius_Burckhardt.html#Von%20der%20Urbanismuskritik [Abrufdatum: 13.02.2022])

Die Spaziergangswissenschaft von Lucius Burckhardt ist vor allem für die Anwendung in der Stadtplanung gedacht. Burckhardt appelliert, die Wirkung von Gestaltung stärker in den gestalterischen Prozess einzubeziehen. Er war der Ansicht, dass Politik und Architekten:Architektinnen die Gebiete, die sie planen, gar nicht kennen und somit auch die soziale (unsichtbare) Infrastruktur nicht wahrnehmen und bei der Gestaltung der städtischen Umwelt nicht genügend einplanen. Stadt, Landschaft, Architektur ist immer dreidimensional, ist immer Raum - und Raum lässt sich nur wirklich verstehen und begreifen, wenn wir uns in diesem Raum bewegen. Um Raum zu verstehen, muss man tatsächlich selbst dort gewesen sein und sich im Raum fortbewegen. (vgl. Bertram Weisshaar, a. a. O.) Neben dem Spaziergang als hier ansetzendes Forschungsinstrument sieht seine Methode auch den Austausch mit den in den Gebieten wohnenden Spaziergänger:innen vor. Erkenntnisse für die Stadtplanung und das Bauen ergeben sich aus der Bürgerbeteiligung. Promenadologen (wie Bertram Weisshaar, URL: http://www.atelier-latent.de) laden heute (gemeinsam mit Vereinen, Umweltverbänden und der Stadtpolitik) zu gestalteten und geführten Spaziergängen ein. Es geht ihnen um die Kommunikation mit Bürgern:Bürgerinnen, um ihre Wahrnehmung, Bedürfnisse und ihre Beteiligung an der Gestaltung ihrer Umgebung. Die angewendete Spaziergangswissenschaft kann einen gestalterischen und planerischen Impuls geben.

Der Spaziergang kann auch ganz privat genutzt und angewendet werden, um auf andere Gedanken zu kommen. Der Spaziergangsforscher Bertram Weisshaar spricht in diesem Zusammenhang vom „Denkengehen“ und meint den Umstand, dass man im Gehen sehr gut über Dinge nachdenken kann. Man ist nicht mehr so eng konzentriert, lässt sich ablenken von den Dingen, die einem als Spaziergänger:in zufällig in den Weg kommen, gerät in einen entspannteren Modus und plötzlich kann gedanklich eine Wendung gefunden werden, die aus einer verharrten Denkblockade hilft. Das Spazierengehen „ist auch eine Einladung in den Zufall und in den Einfall.“ (vgl. Bertram Weisshaar, a. a. O.) Die neutrale Sicht auf die Umwelt während des Spazierens öffnet den Blick für ungewöhnliche Perspektiven und neue Erkenntnisse, aber: „Bestimmte Perspektiven kann man wohl nur durch Kunst vermitteln, da die Beschränkung des Blickes heute so weit verbreitet ist, dass die Leute kaum mehr die Distanz haben, sie aufzuheben. Das kann nur die Kunst vermitteln, ohne belehrend oder verletzend zu sein. Mit unseren Spaziergängen schalten wir die Angst vor dem Ungewohnten aus. Und außerdem macht es Spaß.“ (siehe-> 01) (Gespräch zwischen Hans Ulrich Obrist und Annemarie und Lucius Burckhardt, 2000, URL: https://kunstaspekte.art/event/hans-ulrich-obrist-lucius-burckhardt-12-2014 [Abrufdatum: 14.02.2022])

 

->Tipp: John Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main, 1979

 

Deutschlandfunk, Essay und Diskurs, 05.09.2021

50 Jahre Theorie der Gerechtigkeit / Die Zukunft der Politischen Philosophie:

https://www.deutschlandfunk.de/50-jahre-theorie-der-gerechtigkeit-die-zukunft-der-100.html

Deutschlandfunk, Essay und Diskurs, 12.09.2021

50 Jahre Theorie der Gerechtigkeit / Verlorener Begriff und feministische Kritik:

https://www.deutschlandfunk.de/50-jahre-theorie-der-gerechtigkeit-verlorener-begriff-und-100.html

Deutschlandfunk, Essay und Diskurs, 19.09.2021

50 Jahre Theorie der Gerechtigkeit / Wie Rawls über Umverteilung, Sozialstaat und Weltordnungen dachte:

https://www.deutschlandfunk.de/50-jahre-theorie-der-gerechtigkeit-wie-rawls-ueber-100.html

 

->Frage: Was ist eine gerechte Entscheidung & Gestaltung?

 

 

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Liebe Tina,

 

gehe doch mal los, spazieren!

Nimm die Frage: „Was ist eine gerechte Entscheidung & Gestaltung“ mit.

Biege 5mal links, dann 5mal rechts ab und gehe frei wieder zurück.

Freue mich auf deinen Text.

 

Danke Lea / eaoe

 

 

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Antwort Tina: 

"Ich verlasse den Rewe nach Links mit dem guten Gefühl alles Pfand losgeworden zu sein, bis auf dieses eine Glas Nüsse. Es begleitet mich die Straße runter bis zur Kreuzung. Hier beginne ich zu zählen und zu denken. Die Gestaltung einer gerechten Entscheidung also. Was bedeutet das. Die Wörter. Bei Gestaltung muss ich direkt an einen Prozess im Plenum denken. Interessant, da ich eigentlich viel bis alles alleine gestalte. In meiner Vorstellung ist der kreative Prozess dennoch geprägt von und mit anderen. Die fehlen hier also für die Gestaltung oder doch für die Entscheidungsfindung. »Welcome / Goodbye« Ich drehe die Fußmatte mit meinem Fuß um. »Goodbye / Welcome« Mich freut das vermutlich mehr als andere. Gestaltung einer gerechten Entscheidung also. Gerecht ist seit knapp 20 Tagen auch schon wieder ein anderes Gefühl. Ich würde gerne ein Foto von der Eckkneipe machen. Schultheiss leuchtet. Sie sehen mich. Ich sehe Gelsenkirchener Barock. Linksrum. Ist es gerecht das. Eigentlich nie. Aber lässt sich das ändern. Eigentlich puh. Gerecht, dass es mir gut geht und anderen nicht, ist es jedenfalls nicht. »Hast du mal 2 Euro.« »Nein.« Gerade noch das Pfand gespendet und jetzt schon wieder NEIN. Gestaltung einer gerechten Entscheidung also. Entschieden kann ich mir nur äußerst schlecht. Aber mir kommen Parallelen zu diesem Spaziergang. Wenn ich wirklich fünfmal links laufe und dann fünfmal rechts komme ich zwangsläufig wieder da hin wo ich gestartet bin. Ein echter Entscheidungsprozess. Und wieder denke ich an andere, die ich wohl um Rat bitten würde um eine richtige Entscheidung zu treffen. »Rödel« Nicole Gallus heißt doch jetzt Rödel. Aber tue ich das eigentlich wirklich? Wie im Gestaltungsprozess auch hier wieder die Verwirrung. Entscheide und gestalte ich wirklich gemeinsam oder allein. »Curry Keule.« Ha. Auf jeden Fall ist die Gestaltung einer gerechten Entscheidung immer von Worten abhängig. Die richtigen Worte finden, um zu erklären, warum man eine bestimmte Entscheidung getroffen hat und diese dadurch nachvollziehbar und nicht angreifbar machen. »Exzellent genießen.« Aber geht es denn immer um die anderen? Gibt es die pauschale Gestaltung der gerechten Entscheidung. Eigentlich sehr. Die Rechtssprechung. Gesetze. Neutralität. Kann die Rechtsprechung allen gerecht werden? Kann ich allen gerecht werden? Meine Rechtssprechung wäre vermutlich von Schlichtung geprägt. »Todesfall. Was zu tun ist. 5. « Wie oft kommen Schlichtungen eigentlich vor? Können Kompromisse gerecht sein? Die Gestaltung der gerechten Entscheidung scheint subjektiv. »Test ohne Schmerzen.« Hanna schreibt: »Das vorletzte Maiwochenende 21./22. ginge, aber das ist ja jetzt auch schon raus. Frühjahr finde ich natürlich auch super, aber verstehe auch, wenn ihr nicht mehr so ewig warten wollt. Möchte zwar unbedingt mit, aber sonst machen wir das Ganze noch einmal.« Eine Entscheidung die ansteht will sie erleichtern. Vorhin noch mit Rosalie gesprochen. Ich will das alle dabei sind. Rosalie will nicht das unser Wochenende mit meinem Geburtstag kollidiert. »Das findet statt, oder?« Hoffnung zerplatz. Neun Freunde. Sechs Eltern. Neun Kinder. Termine! »Syrische Essspezialitäten«? »Knate« Aha. Die Gestaltung einer gerechten Entscheidung. Schwierig. Hier. Da. Ich bin jetzt schon fast zweimal am Startpunkt vorbei und dennoch nicht weiter. Ich lasse mich ablenken. Ich bin da wo ich noch nie war. An diesen Ort und auf einem Spaziergang mit einer Frage. Seit Corona weiß ich, dass ich für einen Spaziergang Freunde brauche oder meine Mutter. Ohne einen Grund geht es nicht. Der Gedankengang lässt mich abschweifen. Schon oft hat mich die Ablenkung weiter gebracht. Heute bringt sie mich weiter weg. Ich denke an die Worte, die ich finden soll. Hier ist also »Fedora.« Und dieses erste Hipstercafé in der Gegend gibt es auch noch. Die Gestaltung einer gerechten Entscheidung. Die Worte sammeln sich. Ich schreibe bevor ich schreibe. Ich hätte nein sagen sollen. Hätte ich nein sagen sollen, können, bei der Bitte, das hier zu schreiben. Geht Freundschaft vor Arbeit. Jaaa. Und doch schwierig. Ich habe Respekt vor morgen. Hinterher ist man immer schlauer. Aber nach diesen 20 Minuten? Bin ich keinen Schritt weiter. Ich muss klarer werden. Hier. Und allgemein? Was will ich eigentlich? Was sag’ ich eigentlich? Was schreib ich jetzt? »Die Masken werden fallen.« Ach Batman. 20 Minuten. Ein Teil von 11.774 Schritten. 5 Grad. Berlin-Mitte. Mitte März. Das »Wilde Rosmarie« Glas ist immer noch in meiner Tasche. Vier Supermärkte später. Zusammen mit einer Papiertüte, die meinen Namen trägt. Danke Flink. Die Gestaltung einer gerechten Entscheidung will keine Gestalt annehmen. Ich kann mich nicht nähern. Eine Fritz Cola. Eine Mate. Ein Hibbel. »Eine neue Zeit braucht neue Antworten.« Wie wäre das bei meiner Frage? Die U-Bahn spült Menschen auf einen Platz. Schon oft gelesen. Noch nie zuvor wirklich gedacht. Eine bleibt liegen. Zurück zur Frage. Zuhause. Die Gestaltung einer gerechten Entscheidung? Zumindest fertig getippt. Jetzt lese ich mal das Briefing."

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Verbot / Verzicht / Verfügbarkeit / Detox / Entzug

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->Tipp: Philipp Lepenies, Verbot und Verzicht, Politik aus dem Geiste des Unterlassens, Berlin, 2022

 

 

->Frage: Was ist nötig?

 

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Heuristik

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->Tipp:

 

->Frage: Was ist egal?

 

56

Geschmack

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->Frage: Wer ist ein Vorbild?

 

57

Moral / Fabel / Narrativ / Meta-

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->Frage: Was ist eine gute Perspektive?

 

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Entscheidung / Problem

 

Das Thema Entscheidung ist persönlich und allgemein, kompliziert und komplex. Entscheidungen gibt es überall, sie erscheinen als eine Grundstruktur menschlicher Existenz, denn hat nicht im Grunde jedes menschliche Verhalten Entscheidungscharakter? Steckt nicht in jedem Handeln eine Struktur nach Auslese aus Verhaltensmöglichkeiten? (vgl. L. Landgrebe, Diskussionsbemerkung zu Situation und Entscheidung, in Helmuth Plessner (Hrsg.), Symphilosophien, Berichte 3. Deutscher Kongress für Philosophie Bremen 1950, München, 1952) Alles muss, kann, darf oder soll entschieden werden, damit es Gestalt annimmt. Jede Entscheidung gestaltet sich anders. Entscheidungen gestalten unsere Welt, unsere Welt gestaltet unsere Entscheidungen. Was mit dem Begriff Entscheidung bzw. Entscheiden (genau) gemeint ist, ist abhängig vom jeweiligen Forschungsfeld. Selbst innerhalb der einzelnen Forschungsfelder gibt es unterschiedliche Zugänge. Entsprechend formulieren unterschiedliche Disziplinen ihren Forschungsgegenstand unterschiedlich. „Eine Definition des Gegenstandes ist somit nicht ‚richtig‘ oder ‚falsch‘.“ (Tilmann Betsch, Joachim Funke, Henning Plessner, Denken - Urteilen Entscheiden Problemlösen, Allgemeine Psychologie für Bachelor, S. 68, Berlin/Heidelberg, 2011) Die Entscheidung wird (in der Psychologie) als die „Wahl einer Handlungs- oder Reaktionsmöglichkeit in einer Situation, in der mehrere Möglichkeiten bestehen“ definiert. „Die Reaktionsstärken (Amplituden, Auftretenswahrscheinlichkeiten) führen zu einem Konflikt, der bei etwa gleich großen Reaktionstendenzen am stärksten wird. Der Konflikt wird durch die Entscheidung beendet, auch wenn der E. eine Nachentscheidungsdissonanz (‚War die E. auch richtig?‘) folgen kann.“ (vgl. Dorsch, Psychologisches Wörterbuch, Herausgeber Hartmut O. Häcker und Kurt-H. Stapf, 15. Auflage, Bern, 2009) Entscheiden ist der Prozess des Wählens zwischen mindestens zwei Optionen, mit dem Ziel, erwünschte Konsequenzen zu erreichen und unerwünschte Konsequenzen zu vermeiden. Der Verlauf des Entscheidungsprozesses wird durch Faktoren bestimmt, die in der Umwelt und in der Person des bzw. der Entscheidenden liegen. Im günstigsten Fall führt der Prozess zu einer Entscheidung. Entscheiden bezieht sich auf die Bildung einer Handlungsintention unter Beachtung der übergeordneten Ziele, Entscheidung ist der Entschluss, diese zu realisieren, z. B. indem eine Handlung ausgeführt wird und ein Konflikt beendet wird. (vgl. Markus Antonius Wirtz (Hrsg.), Dorsch, Lexikon der Psychologie, URL: https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/entscheiden-entscheidungstheorie [Abrufdatum: 22.02.2022]) Ein Konflikt ist „das gleichzeitige Bestehen oder Anlaufen von mindestens zwei Verhaltenstendenzen.“ (Markus Antonius Wirtz (Hrsg.), Dorsch, Lexikon der Psychologie, URL: https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/konflikt#search=f19a4b824c76ac66b434e722338bd203&offset=0 [Abrufdatum: 22.02.2022]) Er wird als Spannungssituation aufgefasst, in der Kräfte auf eine Person einwirken, die von etwa gleicher Stärke sind, jedoch in entgegengesetzter Richtung ziehen. „Daraus ergeben sich drei Grundsituationen: Appetenz-Appetenz- (Annäherungs-Annäherungs-)Konflikte treten bei der Wahl zwischen zwei als positiv wahrgenommenen Alternativen auf. Bei Aversions-Aversions- (Vermeidungs-Vermeidungs-)Konflikten geht es um die Wahl zwischen zwei Übeln. Der Appetenz-Aversions- (Annäherungs-Vermeidungs-) Konflikt ergibt sich, wenn die Wahl der Alternativen sowohl positive als auch negative Konsequenzen beinhaltet (Konflikttheorie, Annäherungs-Vermeidungs-Konflikt). […] Konflikte können zunächst unbemerkt entstehen (latenter Konflikt). Diese Phase der Latenz ist beendet, wenn durch ein Auslöseereignis der Konflikt für die Beteiligten offenbar wird – in der manifesten Phase besteht Klarheit über den Dissens.

Bei der Konfliktwahrnehmung kann es zu verschiedenen Verzerrungen kommen, der Konflikt wird z. B. unter- oder überschätzt. Konflikte entwickeln zudem häufig eine eigene Eigendynamik, sie können eskalieren.“ (Markus Antonius Wirtz, a. a. O.) „Die Situation der Entscheidung läßt sich definieren als jenes Durchgangsstadium innerhalb der zielgerichteten Handlung, das durch einen Konflikt konkurrierender Handlungsmöglichkeiten aufgebaut und mit der Auswahl einer dieser Möglichkeiten verlassen wird, womit der Weg in die Handlungsrealisierung sich öffnet.“ (Hans-Dieter Schmidt, Leistungschance, Erfolgserwartung und Entscheidung. Experimentelle Studien über das Verhalten in unsicheren und Risikosituationen, S. 27, Berlin, 1966)

Entscheidung ist also das aus einem Konflikt folgende Geschehen, das die Grundlage für die Realisierung einer Handlungstendenz schafft. Das Entscheiden meint dann die Wahl zwischen mehreren Lösungsmöglichkeiten. Dazwischen ist das Problemlösen geschaltet, es ist der Prozess, der dafür sorgt, dass Lösungsmöglichkeiten aufgefunden werden. Der Prozess Problemösen ist gemeinsam mit der Entscheidung in einem Handlungsstrom verwoben. Wenn eine Entscheidung ansteht, bei dem das Individuum einen Vorzugszustand zu erreichen versucht, jedoch nicht unbedingt weiß, wie es zu diesem Zweck handeln soll, handelt es sich um ein Problem. Ein Problem wird durch die Merkmale charakterisiert, dass ein Ziel vorliegt, dessen angestrebte Erreichung in Frage steht und dass dem Ziel ein Hindernis im Weg steht, welches nicht mittels Routineaktivitäten beseitigt werden kann, sondern Nachdenken erfordert. (vgl. Tilmann Betsch, Joachim Funke, Henning Plessner, a. a. O., S. 138) Problemlösung führt zu Lösungsmöglichkeiten, mehrere Lösungsmöglichkeiten können wiederum zu einem Konflikt werden, wenn es Verhaltenstendenzen für mehrere der Lösungsmöglichkeiten gibt. (vgl. J. Funke, M. Kirk, Umgang mit komplexen Problemlöse- und Entscheidungsprozessen, in Thomas Mitschke (Hrsg.), Handbuch für Technische Einsatzleitungen, S. 197-200, Stuttgart, 1997) Der:die problemlösende Akteur:in wird dann dem:der Entscheider:in gleichgesetzt. Die meisten Probleme fordern kognitive Kapazitäten, sie benötigen bewusste Verarbeitungsprozesse, in denen wir analysieren und kontrollieren und so eine Entscheidung fällen. Daneben treffen wir gewisse Entscheidungen völlig automatisiert, weil wir sie schon sehr oft so getroffen haben und sich die Erfahrung als gut erwiesen hat. Das System basiert auf assoziativen Verknüpfungen von Inhalten. Das emotionale Erfahrungsgedächtnis ist das Bewertungssystem, das Situationen ganz grob in gut, schlecht oder neutral einteilt, automatisch werden verschiedene Informationen aufgenommen und verarbeitet. (vgl. Andres Claudius Pfister, in Entscheiden mit dem Problemlöse-Zyklus, 2021, URL: https://blog.zhaw.ch/iap/2021/07/07/entscheiden-mit-dem-problemloese-zyklus/ [Abrufdatum: 08.03.2022])

Nicht jede Entscheidung ist also auch die Lösung eines Problems. Anzumerken ist außerdem, dass nicht jeder Konflikt durch eine Entscheidung gelöst wird bzw. nur durch eine Entscheidung gelöst werden kann. Die Entscheidung ist nicht die einzige Bewältigungsform einer multivalenten Situation. Es gibt eine Reihe anderer Reaktionen auf Konfliktsituationen. Sie werden zum Beispiel unterschieden nach exogenen und endogenen Lösungsformen. Die maßgebenden Faktoren der Lösung werden hier in außerhalb des Individuums liegende und in Lösungen, die im Wesentlichen von innerpsychischen Prozessen getragen werden unterteilt. Außerdem wird zwischen direkten und indirekten Bewältigungsformen unterschieden. Entscheidungen zählen dabei zu den direkten Formen. Die direkten Formen sind die Versuche, durch Erfassen von Vor- und Nachteilen der Alternativen und der daraus resultierenden Bewertung den Konflikt zu lösen. Bei den indirekten Bewältigungsformen wird der Konflikt nicht endgültig bewältigt, sondern nur verändert bzw. in eine andere Dimension verlagert. Dazu zählen Sublimation, Substitution, Kompensation, Flucht, Rationalisierung, Regression et cetera. (vgl. Ludwig J. Pongratz, Psychologie menschlicher Konflikte, Phänomenologie und Theorie, S. 208 ff., Göttingen, 1961)

Neben der einleitend herangezogenen Definition von Entscheidung, die diese mit einer Konfliktsituation verbindet, gibt es auch den Ansatz, dass in jedem Wollen bereits eine Entscheidung mitgegeben sei. Das bedeutet, dass nicht nur dort, wo eine Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten besteht, eine Entscheidungssituation entsteht, sondern das Ergreifen einer Möglichkeit auch ohne eine Alternative eine Entscheidung ist. „In allen Wollenserlebnissen, dem Sichentschließen (Entschluß), dem Sich-etwas-Vornehmen (Vorsatz), dem Etwas-Beschließen (Beschluß) und dem Etwas-Beabsichtigen (Absicht) ist immer eine spontane Entscheidung enthalten.“ (Wilhelm Keller, Psychologie und Philosophie des Wollens, S. 50, München, 1954) „Gemeinhin denkt man beim Begriff der Entscheidung an eine Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten. Allein gerade das macht nicht ihr eigentliches Wesen aus. Dieses liegt nicht in der Tatsache mehrerer Möglichkeiten, sondern darin, daß überhaupt eine Möglichkeit ergriffen wird. Auch das ist ein ‚Wählen‘, aber nicht im Sinne eines ‚Wählens zwischen‘, sondern im Sinne des ‚Erwählens von‘. Darum kann durchaus auch da von Entscheidung die Rede sein, wo keine ›Wahl‹ in jenem üblichen Sinne stattfindet und kein Schwanken zwischen verschiedenen Möglichkeiten vorausgeht; also auch da, wo z. B. nur eine einzige Abzielung überhaupt möglich ist oder eine bestimmte Möglichkeit sich so sehr von selbst aufdrängt, daß die Setzung sie sogleich und ohne Schwanken ergreift.“ (Wilhelm Keller, a. a. O., S. 103)

„Faßt man den Entscheidungsbegriff so weit, so sind auch Problemlösungsprozesse als Entscheidungsprozesse zu charakterisieren, die lediglich zur Entwicklung und Formulierung einer einzigen Lösungshypothese führen, die akzeptiert wird, ohne daß mehrere Alternativen erwogen und verglichen werden.“ (Werner Kirsch, Einführung in die Theorie der Entscheidungsprozesse, S. 71, Wiesbaden, 1977) Wenn der Entscheidungsprozess und das Problemlösen als identisch betrachtet werden kann (vgl. Orville G. Brim, David C. Glass, David E. Lavin, Norman Goodman, Personality an Decision Process, studies in the social psychology of thinking, S. 11-12, Stanford, 1962), dann sind die Ansätze zur Lösung von Problemen auch für Entscheidungen relevant. Das Design Thinking als „eine systematische Herangehensweise an komplexe Problemstellungen aus allen Lebensbereichen“ (Hasso-Plattner-Institut Academy, URL: https://hpi.de/school-of-design-thinking/design-thinking/was-ist-design-thinking.html [Abrufdatum: 30.03.2022]) schließt hier den Kreis zum Thema Gestaltung, denn der „Design-Thinking-Prozess ist an den Arbeitsprozess angelehnt, dem Designer intuitiv folgen,“ orientiert sich also beim Problemlöseprozess daran, wie Gestalter:innen Entscheidungen treffen … womit wir wieder am Anfang der Suche wären, beim Problem: „Das Treffen einer Entscheidung im besonderen Zusammenhang mit Gestaltung. Die Gestaltung einer Entscheidung.

Das Thema: Entscheidung & Gestaltung“

 

 

->Frage: Was bleibt egal? 

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Welches Gesetz wünschen Sie sich? / Welches Gesetzt wünscht du dir? / Welches Gesetz ist nötig?

 

Welches Verbot würde Ihnen guttun? / Welches Verbot würde dir guttun?

 

Treffe Sie bewusst heimlich Entscheidungen? / Triffst du bewusst heimlich Entscheidungen?

 

Welches ist die wichtigste Regel bzw. beste Faustregel? / Welche Regel brauchen wir? / Welche Regel ist gut? / Welche Regel ist ok? / Welche Regel gilt?

 

Was ist ein gutes Beispiel? / Wer ist ein gutes Beispiel?

 

Welches Risiko tragen Sie? / Welches Risiko trägst du?

 

Beste Entscheidung bis jetzt? / Sich am negativsten gestaltende Entscheidung bis jetzt?

 

Was kann helfen? / Wie kann der Zufall helfen?

 

Was ist richtig?

 

Was bleibt egal? / Was ist nie egal? / Was ist nicht egal?

 

Was ist unwichtig?

 

Was ist ästhetisch?

 

Was bleibt?

 

Was brauchen wir? / Was brauchen Sie? / Was brauchst du? / Was wird gebraucht?

 

Was wollen Sie? / Was willst du?